Live-Streaming ist eine interaktive Form der internetbasierten Multimedia-Unterhaltung, die ungefähr seit 2011 weltweit rasant an Popularität hinzugewonnen hat (Needleman, 2015; Twitch, 2015). Mittlerweile sind diese Angebote derart beliebt, dass in einigen Fällen mehr Menschen andere bei Aktivitäten online beobachten, anstatt diese selbst auszuführen (Chueng & Huang, 2011; Kaytoue, Silva, Cerf, Meira & Raessi, 2012). Egal ob Microsofts eingestellter Dienst namens „Mixer“ (2016 – 2020), Googles „YouTube“ oder „Twitch“ von Amazon und so weiter – in allen Fällen waren Computerspiele Kerninhalt der „Streams“.
Im Zuge der globalen Verbreitung von Videospielen hat sich im letzten Jahrzehnt diese neue Art von Social Media etabliert. Es handelt sich hierbei um sogenannte „Social-Live-Streaming-Dienste“ (SLSS). Diese zeichnen sich durch Synchronität aus und setzen auf eine Kombination aus Echtzeit-Übertragung, Partizipation, Interaktionen zwischen Publikum und Streamer sowie die Nutzung von Belohnungssystemen (Scheibe, Fietkiewicz & Stock, 2016). Diese neue Form der Online-Unterhaltung entwickelte sich zu einem der wichtigsten Unterhaltungsmedien (Kaytoue, Silva, Cerf, Meira, & Raïssi, 2012; Pires & Simon, 2015). Im Gegensatz zu früheren Streaming-Diensten, wie etwa das Fernsehen oder sogenannten „on-demand“ Dienstleistern wie YouTube, ist in den Augen vieler Beobachter der Reiz und der Erfolg nicht auf das Videospiel an sich, sondern auf die unmittelbare menschliche Interaktion zwischen Streamer und Zuschauern zurückzuführen. Plausibel?
Eines der prominenteren Beispiele für Social-Live-Streaming-Dienste ist die Plattform „Twitch“, die bereits im Jahr 2015 mehr als vier Milliarden Stunden Videolaufzeit anbot (Twitch, 2015). Nicht die Betreiber von Twitch, sondern sogenannte „Prosumer“ (Toffler, 1981), eine Mischung aus „Producer“ und „Consumer“, erstellen im Privaten Inhalte, die wiederum von weiteren privat konsumiert werden können. Verbraucher, Produzenten und Prosumer bilden „Twitch“. Benutzer, die Streams nur ansehen, nehmen die Rolle des Zuschauers ein, die durch Chats mit anderen und dem Streamer selbst in Echtzeit kommunizieren können.
„Twitch“ ist zu einem integralen Bestandteil des Alltags vieler Jugendlicher und Erwachsener geworden: Beispielsweise wurden im Jahr 2015 circa 422 Minuten an Videomaterial monatlich pro Zuschauer angesehen, YouTube kam im gleichen Zeitraum hingegen nur auf 291 (Twitch, 2015). Finanziell schoss der Umsatz in die Höhe, was sich beispielsweise an 17,4 Millionen Dollar Spenden für wohltätige Zwecke abschätzen lässt (Twitch, 2015). 35% aller Zuschauer nutzten bereits 2014 ihr Smartphone, um die Plattform zu besuchen - Tendenz steigend (Twitch, 2014; Twitch, 2015). Circa 41% der Nutzer waren im Jahr 2019 vierundzwanzig Jahre alt oder jünger (GlobalWebIndex, 2020), mehr als 70% waren unter 34 Jahre alt – „Twitch“ spricht somit vor allem ein sehr junges Publikum an, was anhand der Smartphone-Nutzerzahlen aus 2014 bereits zu erahnen war.
Der Erfolg zog Erweiterungen der Streamingkonzepte nach sich, die nicht unumstritten sind. Frei zugängliche „Hot Tub“-, „ASMR”- oder „Casino“-Streams waren und sind etwa Anlass, über zulässige und ablehnungswürdige Streamingformate zu diskutieren. Einige eingesessene Größen der Plattform, die Videospiele ins Zentrum ihrer Streams stellen, monieren beispielsweise, dass zu viele Alternativangebote vom Betreiber erlaubt werden, während die „Macher des Erfolges“ sich recht rigiden Nutzungsrichtlinien zwischen DSGVO, Urheberrecht und weiterer AGB unterwerfen müssen. In Reaktion griffen andere aktive Streamer oder die Presse die Auseinandersetzung um Konkurrenz, Fairness, Gesetzeskonformität und Popularität oftmals gerne auf, um die Diskussion auszuweiten (vgl. z.B. Warczynski, 2021; Hensen 2021). Die verschiedenen Anlässe der Diskussion mündeten in Kommentar- und Forensektionen in die Frage nach dem eigentlichen Charakter und Wesen, den ein Stream etwa auf „Twitch“ haben sollte: Warum sind etwa jene „Hot Tub“-Formate uneingeschränkt vom Betreiber erlaubt, während etwa Glückspiel- beziehungsweise „Casino“-Streams kritisch beäugt werden? Was ist ein ordentlicher Stream, egal ob auf „YouTube“ oder „Twitch“? Gehört Streaming respektive „Twitch“ oder „YouTube“ nicht den Videospielen, dabei doch gerade diese es erfahrungsgemäß langfristig vermögen, einen „Stream“ zu gestalten?
Informationsbeschaffung und Soziales
Es ist vernünftig den Zuschauer direkt als Experten zu befragen, denn die Antwort lässt sich durch die Motivationen hinter dem Konsumieren von Twitch-Inhalten formen. Informative bis bildungstechnische Aspekte wären ein möglicher Erklärungsfaktor und würden die Verbundenheit von Videospiel und „Twitch“ bekräftigen. Ein anderer Erklärungsversuch wäre die soziale Hemisphäre, die viel allgemeiner gefasst ist, und letztendlich jede Art von Format, die auf Interaktion setzt, zulassen würde. Das Bedürfnis nach Unterhaltung einerseits und das Kennenlernen von Neuem, also Informationsbeschaffung andererseits, wurden oftmals gleichwertig diskutiert (Hamilton, Garreston, & Kerne, 2014; Sjöblim & Hamari, 2017; Chen & Lin, 2018), weil sie nicht nur im „Streaming“, sondern auch im Bereich der „Social Media“ (Papacharissi & Mendelson, 2010), „Video Services“ (Cha, 2014) und „eSport“ (Cheung & Huang, 2011; Hamari & Sjöblom, 2017) am ehesten erklärten, warum jemand sich längere Zeit mit diesen Diensten befasste.
Die Erweiterung um soziale Interaktionen erlaubte eine erste Hierarchisierung der Faktoren: Aspekte, wie beispielsweise die Informationsbeschaffung zu einem Videospiel oder das ungetrübte Genießen blieben zwar substanziell, rangierten allerdings auf sekundärer Ebene (vgl. z.B. Gros, Wanner, Hackenholt, Zawadzki & Knautz, 2017; Hilvert-Bruce, Neill, Sjöblom & Hamari, 2018). Fünf der sechs wichtigsten Faktoren, warum und wie „Twitch“ funktioniert, stammten nach Hilvert-Bruce und Kollegen (2018) aus der sozialen Hemisphäre: Soziale Interaktion, Gemeinschaftsgefühl, Begegnungen mit unbekannten Menschen und Unterhaltung erklärten neben der Informationssuche am ehesten, warum sich eine Person auf der Plattform „Twitch“ aufhielt. Die ersten fünf Faktoren wirkten wiederum stabilisierend bis verstärkend, weil durch die Erfüllung dieser eine emotionale Bindung zwischen Zuschauer und Streamer / Twitch-Kanal aufgebaut wurde, was wiederum dazu führte, dass die jeweilige Person öfters dem präferierten Stream beiwohnte. Nebenbei konnte das Vorurteil falsifiziert werden, dass Streaming-Zuschauer vermehrt sozial ängstlich seien und deshalb sich gerne im Internet in Distanz im Web zusammenschließen würden.
Social support and social anxiety were the only two motivators that were not associated with any type of live-stream engagement.
– Hilvert-Bruce et al., 2018, Seite 63
Somit funktioniert „Twitch“, weil dessen Angebote das Bedürfnis nach sozialer Interaktion befriedigen können. Es ist in diesem Zusammenhang nicht verwunderlich, dass insbesondere Jugendliche, die im Spannungsfeld von Individualentwicklung („Wer bin ich?“) und sozialer Anpassung („Zu welcher Gruppe möchte ich dazugehören oder gehöre ich dazu?“) stehen, einen besonderen Reiz in Streamingdiensten erkennen. Ebenso konnte „Twitch“ aufgrund der COVID-19 Pandemie und den zugehörigen Lockdown-Maßnahmen einen Teil dessen auffangen, was außerhalb der eigenen vier Wände nicht mehr möglich war.
Und dennoch ist die Frage, ob „Twitch“ den Videospielen zwangsläufig gehört, nicht geklärt. Eine erste Tendenz, dass nicht das Videospiel selbst, sondern die Interaktion mit dem Streamer und anderen Zuschauern wesentlich(er) ist, reicht nicht aus. Dem würde beispielsweise immer noch entgegenstehen, dass viermal so viele Personen Streams mit Videospielinhalten im Schnitt auf „Twitch“ anschauen als alle anderen Angebote zusammen.
Bliebe allerdings das vorgestellte Muster über die Zeit bestehen oder würde sich dieses gar weiter vom eigentlichen Inhalt des Streams entfernen, so müsste man eingestehen, dass „Twitch“ zwar für Videospiele funktioniert, aber nicht langfristig von diesen abhängig ist. Dass die Betreiber auf ihrer Informationsseite neben „Spielen“, auch Musik, Talkshows, Sport, Reisen und Outdoor, Essen und Trinken und so weiter aufzählen, lässt erahnen, dass „Twitch“ nicht für die „Gaming-Szene“ per se gedacht wird.
Der Faktor Videospiel verschwindet
Erweitert man die möglichen Nutzungsgründe von „Twitch“ substanziell um den Faktor „Unterhaltung“, so rückt die zuvor hervorgehobene soziale Hemisphäre des Streamings wie die Informationsbeschaffung in den Hintergrund (Gros, Wanner, Hackenholt, Zawadzki & Knautz, 2017).
Die Zahlen stehen für sich und suggerieren auf den ersten Blick, dass „Twitch“ dem Fernsehen gleichzusetzen sei. Unterhaltung oder leicht negativ konnotiertes „Berieseln lassen“ scheint in gleicher Art und Weise hauptsächlich Zuschauer anzulocken. Zieht man hingegen hinzu, dass circa 32% aller Twitch-Nutzer schon einmal einem Streamer Geld gespendet oder etwas für Abonnements ausgegeben haben (Gros et al., 2017), dann bekommt vor allem der Aspekt des „Sozialen“ eine Wertigkeit, die diskutabel über dem steht, was der Faktor „Unterhaltung“ repräsentiert. Dieser hat maßgeblichen Einfluss darauf, ob Abonnements oder Geldspenden getätigt werden: Beispielsweise erhält man für die jeweilige finanzielle Investition die Möglichkeit besondere Emoticons im Chat zu nutzen, mit dem Streamer durch eine Spende direkt zu kommunizieren, an exklusiven Gewinnspielen, Chats oder Spiel(partien) teilzunehmen.
Die Gefahr, dass etwa Aufmerksamkeitssuchende dazu verleitet werden, übermäßig Geld zu investieren, um in zuschauerstarken Streams ins Rampenlicht zu rücken, scheint auf den ersten Blick plausibel. Allerdings werden Zahlungen meist (> 90%) damit gerechtfertigt, den Streamer unterstützen zu wollen. Eigennützige Gründe, so die Autoren Gros, Wanner, Hackenholt, Zawadzki und Knautz, schienen nicht wichtig zu sein. Eine tiefergehende Erklärung für diese Angaben liefern Dunn und Kollegen (2008), die mit dem Titel „Spending money on others promotes happiness“ den eigenen, emotionalen Nutzen wieder zum Vorschein kommen lassen. Die Freude des Streamers über die eigene Spende kann positiv wirken. Problematisch hingegen ist, dass der Wunsch des Miteinanders hinter einer „Paywall“ versteckt werden kann. Teil einer Community zu sein respektive sich untereinander austauschen zu können geht nur durch die Chatfunktion. Wird die Nutzung mit einem Abonnement verknüpft, wird eine gewisse Verführung sichtbar; erst recht bei denjenigen demographischen Gruppen, die sich auf der Identitätssuche befinden und somit Interaktionen äußerst wertschätzen (Jugendliche).
Insbesondere fällt auf, dass Themen, die mit Videospielen direkt verbunden sind, über die Zeit hinweg verschwinden. Die Motivatoren „Unterhaltung“, wie „Soziales“ und „Information“ steigen in ihrer Wertigkeit zwar über die Zeit hinweg, das heißt je öfters beziehungsweise länger man sich auf der Plattform aufhält (Gros et al. 2017).
Allerdings beinhaltet der sich am stärksten verändernde Faktor namens „Soziales“ die interessantesten Erkenntnisse: Je mehr Freizeit ein Zuschauer für Twitch aufwändet, desto mehr wird das Soziale zur Motivation (Gros et al. 2017). Und gleichzeitig steigt die Wahrscheinlichkeit Geld auszugeben, je mehr Zeit ein Nutzer auf der Plattform verbringt (Gros et al. 2017), was als ein Maß für Identifikation mit der Plattform gedeutet werden kann. Im Vergleich zum TV bindet „Twitch“ somit nicht durch einen spezifischen Inhalt, sondern durch Interaktion, die im Feld der Unterhaltung wirkt. Das Videospiel als eigentlicher Inhalt des Streams verschwindet aus dem Fokus. Es geht in der Unterhaltung des Zuschauers auf, die meist durch die Person des Streamers transportiert wird. Somit gehört „Twitch“ nicht den Videospielen – im Gegenteil. Spiele können auf der Ebene der Unterhaltung für „Twitch“ wirken. Langfristig bindet allerdings das, was in Chats und der Interaktionen mit dem Streamer passiert. Das Videospiel bleibt außen vor.
Literaturverzeichnis
Texte
- Cha, J. (2014). Usage of video sharing websites: Drivers and barriers. Telematics and Informatics, 31, 16 - 26.
- Chen, C. C., & Lin, Y. C. (2018). What drives live-stream usage intention? The perspectives of flow, entertainment, social interaction, and endorsement. Telematics and Informatics, 35(1), 293 - 303.
- Cheung, G., Huang, J. (2011). Starcraft from the stands: understanding the game spectator. In: Proceedings of the 2011 Annual Conference on Human Factors in Computing Systems – Chicago, 2011, 763–772.
- Dunn, E.W., Aknin, L. B. & Norton, M. I. (2008). Spending Money on Others Promotes Happiness. Science 319, 1687.
- GlobalWebIndex (2020): Verteilung der Twitch-Nutzer nach Altersgruppen weltweit 2019.
- Gors, D., Wanner, B., Hackenholt, A., Zawadzki, P. & Knautz, K. (2017). World of Streaming. Motivation and Gratification on Twitch. International Conference on Social Computing and Social Media. Human Behavior, 44 – 57.
- Hamari, J., & Sjöblom, M. (2017). What is eSports and why do people watch it? Internet Research, 27(2).
- Hamilton, W. A., Garretson, O., & Kerne, A. (2014). Streaming on Twitch: Fostering participatory communities of play within live mixed media. In Proceedings of the 32nd annual ACM conference on Human factors in computing systems, 1315 - 1324.
- Hilvert-Bruce, Z., Neill, J. T., Sjöblmo, M. & Hamari, J. (2018). Social motivations of live-streaming viewer engagement on Twitch. Computer in Human Behavior 84, 58 – 67.
- Kaytoue, M., Silva, A., Cerf, L., Meira, W., Jr., & Raïssi, C. (2012). Watch me playing, I am a professional: A first study on video game live streaming. In Proceedings of the 21st international ACM conference companion on world wide web, New York, 1181 - 1188.
- Papacharissi, Z., & Mendelson, A. (2011). Toward a new(er) sociability: Uses, gratifications and social capital on Facebook. In Media perspectives for the 21st century, 212 - 230.
- Pires, K., Simon, G. (2015). YouTube live and twitch : a tour of user-generated live streaming systems. In: Proceedings of the 6th ACM Multimedia Systems Conference, 225 – 230.
- Scheibe, K., Fietkiewicz, K., Stock, W.G. (2016). Information behavior on social live streaming services. Journal of Information Science Theory and Practice 4(2), 6 – 20.
- Toffler, A. (1981). The Third Wave. Bantam Books, New York.