Wenn Sinneseindrücke korrelieren, dann bedeutet dies nicht, dass trivialerweise verschiedene Klänge, Bilder und Gerüche zu einem Gegenstand oder einer Szenerie passen. Der Zusammenhang ist ein anderer: Farben, die klingen, Bilder oder Töne, die schmecken, beschreiben ein Phänomen, das sich Synästhesie nennt. Diese Kopplungen zweier oder mehrerer getrennter Bereiche der Wahrnehmung lassen die Lebenswelt abseits der Norm neu entstehen. Verbindungen oder gar Logiken, die anders aufgebaut aber genauso sinnig auf anderen Wahrnehmungsaxiomen beruhen, beschreiben ein alternatives Bild eines Raumes und dessen Inhalte, den alle Menschen sich teilen. Der russische Künstler Wassily Kandinsky malte, als würde er Musik komponieren. Farben begannen zu klingen und Bilder verkörperten ganze Sinfonien. Kandinsky war Synästhetiker: Fünf minus drei konnte grün sein und Quadrate waren schon immer rot. Tetsuya Mizuguchi ist Begeisterter dieses psychologischen Phänomens sowie der zugehörigen Kunst, weshalb er seit längerem versucht, die Empfindungen und Wahrnehmung zumindest im Ansatz dem breiten, „normalen“ Publikum zugänglich zu machen. Das Ergebnis dieser Arbeit nennt sich „Rez Infinite“.
Erschienen am
13. Oktober 2016
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Spieldauer
Mizuguchis Hintergrund ist kein gewöhnlicher: Als Absolvent der Nihon Universität in Tokyo und Experte für Medienästhetik hatte er erst ab 1990 mit Videospielen zu tun. Initialzünder war NASAs VR Headset, dessen Technologie Mizuguchi so sehr beeindruckte, dass er Teil des Teams von Sega wurde. Er begleitet die letzten Jahre eines Jahrhunderts des Zweidimensionalen hin zum Dreidimensionalen, das Ende der 1990er flächendeckend Einzug hielt. Zu diesem Zeitpunkt, genauer 1998 in Zürich, besuchte Mizuguchi ein Musikfestival, das ihm das letzte, fehlende Puzzlestück für ein Synästhesiespiel zufällig bescherte: Das Zusammenspiel von Visuellem und Musik in einer sich aufeinander beziehenden Schleife.
I went to the party at night and it was a thousand people not dancing but moving. The music changed, the sounds changed, the movement changed and the colours changed. I watched from the view and I remembered the word synaesthesia.
– Tetsuya Mizguchi, NewsStatesMan.com
Der Begriff der „Synästhesie“ wurde bereits Anfang des 20. Jahrhunderts von Künstlern verwendet. Nicht nur Wassily Kandinsky ist zu nennen, sondern auch viele andere Künstler der Bauhaus Kunstschule verfolgten ähnliche Konzepte Farbe und Form mehr Bedeutung abzugewinnen, als nur dessen, was visuell wahrnehmbar ist. Der Maler wird für Kandinsky, für Mizuguchi der Spieler, zum Dirigent eines Kunstwerks. Ähnliches ist in Sprachen wie dem Japanischen zu beobachten, denn die sprachliche Bezeichnung einer Farbe wurde in Japan aufgrund ihres visuellen Wirkens, ihres Geruchs, ihrer Textur und so weiter vergeben – ein Beweis, dass der Mensch per se sensoriell ist. Die komplette Verschmelzung zwischen realem und virtuellem Raum ist in Ansätzen durch die VR Technologie erfahrbar. „Rez Infinite“ ist ein gutes Beispiel hierfür, denn nicht nur inhaltlich, sondern auch technisch erlaubt die Reduzierung auf einfache, geometrische Formen eine hohe Bildqualität und Effektdichte, die die Maximalspanne menschlicher Aufmerksamkeit vereinnahmt.
I think in the near future all videogames will be like a sensorama. This is the positive aspect of each game.
– Tetsuya Mizguchi
Egal ob Kandinsky oder Mizuguchi: Sie alle verstehen Synästhesie vor dem Hintergrund der Synthese der Künste. Die Mission ist das Gesamtkunstwerk, das heißt die reale Doppelempfindungen Wirklichkeit werden zu lassen. Für sie sind Synästhesien Grenzüberschreitungen zwischen Sinnesmodalitäten und Künsten. Der Kunstbegriff „Synästhesie“ bedeutet die angestrebte Synthese des Geistes. So zeitlos und reduziert Kandinskys Werke, so auch Mizuguchis „Rez Infinite“. Mit anderen Worten: Das Werk ist eher ein Gefühl als ein Spiel. Eine kleine Geschichte als Aufhänger gibt es zwar, aber sie verweilt glücklicherweise in der Nebensächlichkeit, weil sie ansonsten die Aufmerksamkeit fehlleiten würde; weg von der Erfahrung der Synästhesie, die in jedem Spielmoment verhaftet ist. Es geht im Spiel nicht darum, wie auf Schienen laufend Viren und Firewalls verkörpernde Gegenstände in einem Cyberspace zu zerschießen, sondern um den Moment beziehungsweise die Auswirkungen, die das Geballer nach sich zieht. Die Schüsse erzeugen Töne beziehungsweise Melodien, die zu einem Synästhesie-Gefühl führen sollen. Hacken wird in Form von einer Melodie dargestellt. Wer seinem Sensus folgt, wird höhere Gesamtpunktzahlen erspielen, als jene, die nur eindimensional auf Reaktionsschnelligkeit setzen.
Die Entwickler von Enhance Games, rund um Mizuguchi, bewegen sich auf einem schmalen Grat zwischen absoluter Synchronität respektive Harmonie, die ein synästhetisches Erleben ermöglichen und einer gewissen Desynchronisation, die den menschlichen Sinnen nicht gefällt, störend wirkt und sämtliche Ziele verfehlen würde. Letzteres kann durchaus aufgrund der verschiedenen Darstellungsstile im Spiel passieren. „Rez Infinite“ schafft aber eher ersteres, eigentlich sogar mehr als das, denn abseits dessen, was Synästhetiker wie Kandinsky an Wahrnehmung verbinden können, wird Sourcecode im Spiel zu einem bunten Pixelmeer, indem der Spieler schwimmt. Tetsuya Mizuguchi wurde jedenfalls durch „Rez Infinite“ selbst zu einem Synästhetiker, auch weil die Idee des Transhumanismus, die bisher weitestgehend als philosophische Denkrichtung, wenn überhaupt im Bereich der Videospiele existierte, konkret für Konsole und PC ausstaffiert wurde. Enhance Games weißt einen Weg, zumindest beispielhaft, wie die Grenzen menschlicher Möglichkeiten, sei es intellektuell, physisch oder psychisch, durch den Einsatz technologischer Verfahren erweitert werden können.