Ein übermodischer Eierkopf beschreibt etwas Lächerliches. Eine Witzfigur, die es gewiss nicht einfach haben wird, sich in Gruppen zu bewegen – vor allem in gehobenen Gesellschaften des frühen 20. Jahrhunderts. Dieses Erscheinungsbild als „unvorteilhaft“ zu bezeichnen, ist sehr zurückhaltend ausgedrückt. Dass diese Person oftmals unterschätzt wird, ist eingepreist. Vielleicht handelt es sich um einen Tunichtgut, einen Hochstapler oder doch einen übergeschnappten Friseur, der gerne Modetrends setzen will? Andererseits könnte es aber auch eine sehr komfortable Position sein, derart wahrgenommen zu werden. Es kommt darauf an, wie man Vorurteile zu seinen Gunsten nutzt. Dass man Belgier ist, und nicht Franzose, weil nun mal Französisch nicht allein den Franzosen vorbehalten ist – nun, die Tendenz gen einfache Sichtweisen kann man seinen Mitmenschen nicht einfach austreiben. Und wenn man zusätzlich hochgebildet ist, die englische Sprache beherrscht und seine Egozentrik geschickt einsetzt, dann könnte es eine etwas einsame, aber hochinteressante Position sein, aus der man heraus messerscharf und präzise agieren kann. Diese Person ist Hercule Poirot, ein überaus talentierter Privatdetektiv, der in den Romanen von Agatha Christie unterschiedliche, verzwickte Vorkommnisse um Mord und andere Verbrechen lückenlos aufklärt, ohne dabei Gewalt oder andere, moralisch verwerfliche Ermittlungsmaßnahmen zu ergreifen. Diese Kunst, Sinnzusammenhänge auf Basis von Rekonstruktionen und genauer Beobachtungen der Umwelt zu schaffen, gelingt aber nur deshalb, weil man Poirot ansonsten eher distanziert in Ruhe lässt. Sein Geist wird nicht abgelenkt, seine Fähigkeiten werden immer wieder geschult und verfeinern sich stetig.
Erschienen am
19. Oktober 2023
Entwickler
Plattformen
PS4, PS5, Switch, Windows, Xbox Series X
Spieldauer
Auf Steam gibt es mittlerweile mehrere spielerische Adaptationen verschiedener Episoden aus dem Leben von Hercule Poirot. An dieser Stelle muss gesagt werden, dass zwar Microids konstant die Rolle des Publishers übernimmt, das jeweils verantwortliche Entwicklerstudio wechselt allerdings beständig. Das heißt, dass je nach Titel unterschiedliche Stärken und Schwächen festgestellt werden können. Wenn diese Kritik sich also dezidiert mit „Agatha Christie – Mord im Orient Express“ (Microids Studio Lyon, 2023) beschäftigt, dann kann beispielsweise nicht eine Eins-zu-Eins Übersetzung auf „Agatha Christie – Hercule Poirot: The London Case“ (Blazing Griffin, 2023) gezogen werden. Man könnte unterstellen, dass Microids moderierend die gesammelten Erfahrungen seit „Agatha Christie – The ABC Murders“ (Artefacts Studio & Tower Five, 2016) den verschiedenen Entwicklerteams vermittelte. Die unterschiedlichen Herangehensweisen der Studios in der Entwicklung eines Videospiels brechen sich trotzdem ihre Bahnen. Und weil die Vorkommnisse in London im Vergleich zu den Vorfällen im Orient Express laut der einhelligen Meinung aller Spielenden auf Steam qualitativ abfallen, bietet es sich an, die Speerspitze genauer unter die Lupe zu nehmen.
Im ersten Moment könnte man vielleicht etwas erschrocken darüber sein, dass das Spiel optisch recht viele Details ausspart, die ansonsten in den filmischen Übersetzungen von Agatha Christies Werken viel zur Immersion beitrugen und die eigenen Erwartungen an das Videospiel durchaus mitbestimmten. Sie hätten sogar spielerisch zur Herausforderung des Aufspürens der richtigen Hinweise zur Tatrekonstruktion sein können, denn wenn alles interessant wirkt, ist es schwer sinnhaft zu selektieren. Man gewöhnt sich allerdings recht schnell an die eher spartanische, grafische Umsetzung, etwas hakelige Animation sowie durchschnittliche Vertonung, erschrickt aber sogleich nochmals, wenn Hercule Poirot das erste Mal auf dem Bildschirm erscheint:
- Wo ist der eher kleine, kugelförmige, arrogante, eitle und pedantische Poirot abgeblieben? Wer ist dieser schlanke, hoch aufgeschossene Gentleman?
- Wieso erinnert alles im Orientexpress erwartbar an die 1920er respektive 1930er Jahre während gleichzeitig der 17.12.2023 um 09:00 Uhr als Datum eingeblendet wird?
- Gab es vor 100 Jahren bereits sogenannte Liquids für Vapes oder Smartphones?
Die bewusst von den Entwicklern umgesetzten Änderungen der im Roman vorgegebenen Szenerie sind aus narrativer Perspektive merkwürdig. Diejenigen, die die Romane von Agatha Christie gelesen haben oder auf der Leinwand bereits bestaunen konnten, dürften diese optischen wie in die Geschichte eingreifenden Veränderungen missfallen, weil sie ein (eklatanter?) Bruch mit Christies intendierter Immersion und der Sinnhaftigkeit der Figur „Hercule Poirot“ sind. Wenn aber die Choreografie verändert wird, egal ob indirekt durch das Setting oder durch die Umgestaltung des Charakters „Poirot“, dann müsste das auch erhebliche Auswirkungen auf das soziale Geflecht der Personen der Geschichte haben. Es müssten sich sogleich andere Dialoge und Geschichtsentwicklungen ergeben, was wiederum noch größere Auswirkungen auf das Gesamtkonstrukt, das Agatha Christie wohlüberlegt in ihren Romanen schuf, zu Fall bringt. Die Gründe, warum es nicht ausreicht, eine perfekte, stringente Adaptation eines runden, in sich stimmigen Konzepts umzusetzen, erschließt sich einem auch Tage nach dem Durchspielen nicht. Immerhin wäre es doch Herausforderung genug, eine ansonsten rein auf Narration setzende Faszination zusätzlich durch interaktive Elemente zu erweitern beziehungsweise in diese zu übersetzen, oder nicht?
Die Entwickler aus Lyon beweisen nämlich, dass sie dazu in der Lage sind. Der in circa zehn Stunden aufgeklärte Fall eines ermordeten Passagiers des Orient Expresses ist spielmechanisch gut umgesetzt. Das Befragen von charismatischen oder eigenbrötlerischen Zeugen und Verdächtigen oder das aufmerksame Erkennen und Sammeln verschiedener Indizien, um sie anschließend mit Rückgriff auf die Aussagen und Eindrücke der anderen Passagiere eigenständig in einem Gedankenschema in ein konsistentes Bild zusammenzufügen, macht Spaß. Stück für Stück wird der Spieler dazu angehalten, die verschiedenen Hinweise zu suchen, zu erkennen und aufeinander zu beziehen – ähnlich zur Entwicklung, die auch im Roman nachlesbar ist oder erahnbar wäre. Es funktioniert so gut, dass der Spieler die Fallauflösung Poirots äußern könnte, weil er derart tiefgehend in die Analyse und Denkweise des belgischen Privatdetektivs eingeführt wird. Das Einstreuen von Puzzle, um als Belohnung in der Geschichte voranschreiten zu können, indem man beispielsweise mit einer Person endlich ins Gespräch kommt, sind kleine, etwas staksige, generische Taschenspielertricks im Videospieldesign, die in Kauf zu nehmen sind. Auch hier zeigt sich die Abweichung vom eitlen, pedantischen Poirot, der beispielsweise niemals in Christies Welt einem Küchenchef in seiner Küche bei „niederen Arbeiten einer Küchenhilfe“ beistehen würde. Im Videospiel ist dies nicht nur denkbar. Poirot beziehungsweise der Spieler wird an einem gewissen Punkt sogar einen Kühlschrank, oder passender Eisschrank, einräumen.
Dass dabei das Spiel einen sehr stark an die Hand nimmt und einem sofort rückmeldet, ob man Informationsschnipsel korrekt zusammengefügt hat oder nicht, ist angesichts der starken Orientierung an einer vorgegebenen Geschichte passend. Und weil grundsätzlich festgestellt werden kann, dass sich die Geschichte mehr oder weniger eng an Christies Roman entlang hangelt, ist es ein Stück weit schade, dass man nicht in Gänze das Bild zeichnet, das eine widerspruchsfreie Erzählung sein könnte. Das verschenkte Potenzial wird Kennern der Geschichte auffallen. Diejenigen, die bisher nie etwas von Hercule Poirot gehört haben, werden abseits offensichtlicher (geschichtlicher) Widersprüche kaum gestört werden.
Spätestens wenn die zweite spielbare Figur, eine polizeiliche Kommissarin, vor einem modernen amerikanischen Pick-up Truck läuft, wird die zeitliche Verzerrung nicht mehr übersehbar. Einerseits ist es sinnig, eine wichtige Hintergrundgeschichte zu den Vorkommnissen im Orient Express zu präsentieren, andererseits passt das zeitliche Setting ganz und gar nicht. Der altbekannte Handgriff von sogenannten „Flashbacks“ wird auch in diesem Spiel verwendet, um Segmente der Hintergrundgeschichte aus der Perspektive der Kommissarin passend einzustreuen. Die Wechsel zwischen der Hintergrundgeschichte und den Ereignissen im Orient Express funktionieren aufgrund der Ausgestaltung und Verwendung von Objekten aus gänzlich unterschiedlichen Epochen nicht – es verwirrt eher. In diesem Hinblick ist es sogar schwerlich zu diskutieren, ob man Hercule Poirot einfach 100 Jahre später in ein modernes Setting verpflanzen kann. Die Antwort ist „Nein“, weil Poirots Charakter, die daraus resultierenden Verhaltensweisen, die Denkweisen der anderen Passagiere, die Hürden und Erleichterungen, die die Technologie der 1930er Jahre bereithielt, und so weiter nur aus dieser Zeit in ihrer Bezogenheit stammen können.
Das Risiko, ein zusätzliches Mysterium nach der Aufklärung des Falls im Orient Express ins Spiel einzubauen, ist mutig und zu begrüßen. Es spricht nichts dagegen Agatha Christies Geschichte zu erweitern, solange diese Fortschreibung widerspruchsfrei auf allen Ebenen ist. Der Vorteil dieses Schritts liegt auch darin, dass Agathe Christie Experten auf dem falschen Fuß erwischt werden, wenn urplötzlich eine zusätzliche Geschichte angehängt wird, die man gewiss noch nicht kennen kann. Denjenigen, die sich nicht gänzlich auf die Geschichte einlassen möchten, wird dadurch in gewisser Weise ein Tapetenwechsel angeboten. Die verschiedenen Abteile des Orient Express Zuges werden spätestens nach den ersten beiden Spielstunden langweilig, weil wegen der fehlenden Detaildichte das eigene Gedächtnis alles repräsentieren kann. Was für einen zweistündigen Spielfilm genug Abwechslung bedeutet, ist für ein Videospiel mit circa sieben bis zehn Spielstunden nicht ausreichend.
Die Charakteristik von „Agatha Christie – Mord im Orient Express“ ist eine schnelle Abfolge von widersprüchlichen Merkwürdigkeiten und passgenauen Ideen, die für eine und gegen eine gelungene Videospielumsetzung von Christies Roman spricht. Im Rückblick erscheint das Spiel weder schlecht noch gut, weder unvollkommen noch gänzlich rund. Es bewegt sich auf einem Niveau, auf dem sich viele Videospiele ähnlicher Art bewegen. Der inhärenten Logik der Geschichte, um die sich das gesamte Videospiel dreht, wird nicht umfänglich genug verfolgt, um sicherzustellen, dass aufmerksame Spieler nicht aus der Immersion gerissen werden. Gleichzeitig wird aber mit altbekannten Spielmechaniken derart jongliert, dass die Denkweise des Protagonisten erlebbar wird.