Spätestens Ende des Jahres 2015 war klar, dass „Virtual Reality“ (VR) und „Augmented Reality“ (AR) Headsets alsbald kommerziell verkauft werden würden. Facebooks „Oculus“, HTC und Valves „Vive“, Microsofts „HoloLens“ oder Sonys „Morpheus“ Projekt standen mehr oder weniger fertig entwickelt in den Startlöchern. Obwohl die Idee einer VR-Brille keine gänzlich neue war, gestand man dem erneuten Anlauf der Etablierung einer möglichst flächendeckenden, ergänzenden und gleichsam neuen Videospielsparte mehr Chancen zu. Womöglich auch deshalb, weil die genannten Unternehmen als echte Schwergewichte der digitalen Industrie ein erhebliches Innovations- und Marketingniveau von Anfang an sicherstellten, sodass die Gefahr eines kurzen Strohfeuers nicht besonders groß erschien. Die Erfolgsprognosen anhand möglicher Lieferungszahlen variierten zwischen grenzenlosem und immerhin moderatem Optimismus. Die sprichwörtliche goldene Mitte, das Mittel aller Prognosen, erwies sich bisher als das zutreffendste Modell, was einen substanziellen Zuwachs um circa 40% bedeutet. Sowohl im Vorfeld als auch während der Markteinführung der verschiedenen Angebote im Jahr 2016 konzentrierte man sich auf die vielversprechenden, aufregenden und neuen Möglichkeiten, die diese neue Technologie für Konsument wie Wissenschaft und Industrie bereithalten würde. Weniger Aufmerksamkeit widmete man den damit verbundenen, ebenfalls neuen ethischen Fragen beziehungsweise Risiken, die durch die Verwendung der VR-Technologie denkbar sind (Madary & Metzinger, 2016).
Motivation: Wachsender Markt und Risikofaktoren
Die seitens Madary, Metzinger und anderer Wissenschaftlern geäußerte Aufforderung, sich auf ethisch-philosophischer Ebene mit der VR- und AR-Technologie auseinanderzusetzen, fußt auf dem empirisch gewonnenen Wissen, dass VR und AR zwei Technologien sind, die „die objektive Welt verändern können“. Diese objektiven Veränderungen werden subjektiv wahrgenommen und können zur Verschiebung von Werte- und Normensystemen führen. Somit verweilt diese Diskussion nicht auf einer wissenschaftlich-technischen Ebene, sondern findet automatisch in einem weiteren, soziokulturellen Raum statt. Womöglich sind solche Technologien im Stande, nicht nur das generelle Bild des Menschen zu ändern, sondern können tief verwurzelte Auffassungen beziehungsweise Konstrukte wie etwa „bewusst erlebte Erfahrungen“, das „Selbst“, die „Authentizität“ oder die „Echtheit“ beeinflussen. Darüber hinaus ist eine gewisse Transformation der eigenen Lebenswelt nicht von der Hand zu weisen, weil durch diese Technologie neuartige Formen alltäglicher sozialer Interaktionen möglich sind. Die Beziehung des Menschen zu sich selbst und seinem eigenen Bewusstsein könnte neu justiert werden. Es ist wahrscheinlich, dass eine komplexe und dynamische Interaktion zwischen der Normalität im beschreibenden Sinne und der Normalisierung im normativen Sinne entstehen wird. Die Problematik besteht darin, dass es schwer vorherzusagen ist, wohin dieser Gesamtprozess führen wird (Metzinger & Hildt, 2011).
Sämtliche Arbeiten, die im Zuge dieses Artikels aufgeführt werden, verweisen explizit darauf, dass die vorgestellten Ergebnisse und Argumentationsketten nicht dazu dienen sollen, generelle Freiheitseinschränkungen des Einzelnen im Umgang mit VR- und AR-Produkten auszuarbeiten. In offenen, demokratischen Gesellschaften müssen solche Regelungen zwangsläufig auf rationalen Argumenten und belastbaren empirischen Daten basieren. Die Freiheit und Autonomie des einzelnen Bürgers, seine eigenen Entscheidungen zu treffen, sowie seine eigenen Wünsche zu verfolgen, (einschließlich aller einbeschriebenen phänomenalen und kognitiven Eigenschaften) sollten maximiert werden. Beispielsweise argumentieren Madary und Metzinger pro verfassungsmäßigem Recht auf geistige Selbstbestimmung, das auch Bublitz und Merkel (2014) beschreiben. Die Einflussmöglichkeiten regierender Autoritäten sind somit begrenzt, weil die zuvor genannten Werte absolut und grundlegend für die Idee einer liberalen, Gewalten teilenden Demokratie sind. Vielmehr liegt die Aufgabe darin, dem Einzelnen zu helfen, diese Freiheiten in einer intelligenten Weise zu nutzen, sodass negative Auswirkungen und psychosoziale Kosten für die Gesellschaft als Ganzes minimiert werden (Metzinger & Hildt, 2011).
Das durch die Popularität sozialer Medien geschaffene „Bedürfnis“, auf den jeweiligen Plattformen miteinander zu interagieren, wurde in den letzten Jahren genauer beleuchtet und zeigt erste Indizien, dass auf psychologischer Ebene eine sich vertiefende Verwurzelung in virtuellen Räumen beschleunigt wird (vgl. z.B. die Auswirkungen zu Langzeit-Immersionen sowie den Arbeiten von O'Brolcháin, Jacquemard, Monaghan, D’Connor, Novitzky und Gordijn, 2016). Folgt man den Auffassungen von Milgram und Colquhoun (1999), so können alle Angebote zur virtuellen Realität durch ein Kontinuum beschrieben werden. Die reale und die komplett virtuelle Umgebung bilden dabei die beiden Pole. Sämtliche Produkte können entlang dieses Kontinuums, egal ob sie 3D Objekte in einen realen Raum projizieren (AR) oder gänzlich fiktive Räume abbilden (VR), einsortiert werden. Die sich im nächsten Kapitel anschließenden Phänomene und Diskussionsaspekte werden allesamt auf sogenannte HMDs (Head-Mounted Displays), das heißt auf tragbare VR- und AR-Brillen angewendet. Beide Technologien können insofern zusammengefasst behandelt werden, als dass einige Punkte wie etwa die Problematik des Verkennens der physikalischen Umwelt, beide Technologien betreffen, selbst wenn VR oder AR lediglich zur gelegentlichen Arbeit mit 3D Objekten verwendet werden (Azuma, 1997; Metz, 2012; Huang, Hui, Peylo & Chatzopoulos, 2013). Viele dieser Aspekte betreffen sogar das gesamte Realitäts-Virtualitätskontinuum.
Illusorische Verkörperung: Plastizität des Bewusstseins
Eine der zentralen Problematiken ist in den Augen von Petkova und Ehrsson (2008) respektive Slater und Kollegen (2010) die Verkörperungsillusion, die dem Nutzer das Gefühl gibt, in einem anderen Körper als dem eigenen zu stecken. Ein Beispiel hierfür ist die Illusion, einen virtuellen Avatar zu steuern, der dem eigentlichen Körper des Spielers detailgetreu nachempfunden ist. Gegenteiliges, das heißt das Kontrollieren und Steuern eines virtuellen Körpers anderen Alters, anderer Größe und Hautfarbe ist ebenfalls möglich, weil auch hier der illusorische Charakter des Aufgehens in einem anderen Körper gegeben ist. Die Tatsache, dass mit der jetzigen VR-Technologie solche Illusionen qua Immersion möglich werden, ist eine der wissenschaftlichen Hauptuntersuchungsgegenstände in diesem Bereich. Grundlegende Paradigmen in der experimentellen Psychologie konnten bisher solch stark wirkende Illusionen beziehungsweise Simulationen nicht realisieren. Das Anschauen von Filmen oder das Videospielen an einem gewöhnlichen Bildschirm erwiesen sich ebenfalls nicht im Stande, das Gefühl und die unverzerrte Einsicht in die Steuerung eines anderen Körpers zu verwirklichen.
Die Plastizität des menschlichen Geistes ist der Kern dieser Überlegungen. Einer der zentralen Ergebnisse moderner Experimentalpsychologie ist die Beeinflussbarkeit des Menschen durch externe Faktoren, ohne dass der Betroffene sich dessen bewusst ist. Verhalten ist kontextabhängig und die dahinterstehende Psyche ist jederzeit durch kausal wirkende Faktoren (ver)formbar. Diese Beobachtungen stehen dabei nicht im Gegensatz zum Konzept der Persönlichkeit, die mittelfristig stabile Eigenschaften eines Menschen beschreibt, denn letztendlich bewegt sich die überwiegende Mehrheit über die Zeit hinweg in einem relativ stabilen Kontext. Die spezifische Art und Weise, in der menschliches Verhalten durch Kontextfaktoren abhängig ist, spielt für das Thema „VR“ eine essentielle Rolle, weil diese Technik eine komplett neue Umgebung, das heißt eine neue kognitive und kulturelle Nische eröffnet, die wir nach unseren Vorstellungen ausgestalten können.
Es ist nicht ausgeschlossen, dass die durch VR Umgebungen ermöglichten, erweiterten Interaktionsmöglichkeiten zu weiteren fundamentalen Veränderungen führen, die nicht auf einer psychologischen, sondern auch auf einer biologischen Ebene wiederzufinden sind.
– Madary und Metzinger (2016)
Einige der bekanntesten Experimente der Psychologie beschreiben, auf welche Weise und in welchem Ausmaß das menschliche Verhalten von außen verändert werden kann. Beispiele hierfür sind das „Stanford Prison Experiment“, in dem psychologisch unauffällige Probanden in den Rollen eines Gefängniswärters oder Sträflings spielend nach einiger Zeit pathologische Verhaltensmuster zeigten (Haney, Banks & Zimbardo, 1973), das Milgram-Experiment (Milgram, 1974), in dem Probanden einem Versuchsleiter gehorchten, obwohl ihre Taten einer anderen Person Schmerzen zufügten, oder Aschs Konformitätsexperiment (Asch, 1951), das die meinungsbildende Macht der Gruppe demonstrierte.
Ein weiteres Beispiel für den Beweis unterbewusster Beeinflussung der Umwelt auf das Verhalten ist der Versuchsaufbau nach Bateson und Kollegen (2006): Hierfür wurde über einen definierten Zeitraum eine Geldsammelbox, im Versuch auch „Honesty Box“ genannt, neben einem Getränkeautomaten in einem Aufenthaltsraum einer Universität aufgestellt. Es wurde gemessen, welcher Geldbetrag, den jeder Student für sein Getränk selbst bestimmen durfte, gezahlt wurde. Zwischen beiden Messzeiträumen wurde ein darüber hängendes Kontrollbild durch das eines Augenpaares ausgetauscht. Die Ergebnisse zeigten substanzielle Unterschiede, die nur auf den Austausch des Bildes zurückzuführen sind: Mit Augenpaar zahlten Probanden im Schnitt drei Mal so viel wie sonst. Derartige Untersuchungen könnten für die VR-Technologie relevant sein, weil im Bereich der VR die subjektive Erfahrung des Gegenwärtigen und Seins nicht nur durch funktionale Faktoren, wie etwa die Anzahl und Genauigkeit sensorischer Ein- und Ausgangskanäle oder durch die Fähigkeit, die virtuelle Umgebung zu verändern, festgelegt werden, sondern auch durch die soziale Interaktionen zum Beispiel hinsichtlich des Erkennens als real existierende Person durch andere in der virtuellen Welt bestimmt werden (Heeter, 1992; Metzinger, 2003).
Verhaltensmanipulationen: Die Frage nach dem Potenzial
Menschliches Verhalten ist, egal ob virtuell oder physikalisch, in einem sozialen Kontext verortet. Des Öfteren ist man sich dabei nicht bewusst, welche Auswirkungen diese Tatsache auf Lernmechanismen wie auch auf beobachtbares Verhalten hat. Es erscheint plausibel zu postulieren, dass dies auch für neuartige Medienumgebungen gelten wird. Im Unterschied zu anderen Medien ist VR in der Lage, Situationen entstehen zu lassen, in denen die komplette Umwelt, in der sich der Nutzer bewegt, durch die Entwickler dieser virtuellen Welt beeinflusst wird. Dies schließt, wie Madary und Metzinger (2016) es nennen, auch „soziale Halluzinationen“ mit ein, die durch verbesserte Avatartechnologien ermöglicht werden. Im Gegensatz zur physikalischen Welt, können virtuelle Räume mit dem Ziel der Einflussnahme auf das darin stattfindende Verhalten schnell und einfach verändert werden.
Der beschriebene, umfassende Charakter der VR Technologie plus dem Potential der globalen Kontrolle von Erfahrungen bietet die Möglichkeit für neue und besonders mächtige Formen der mentalen und behavioralen Manipulation, insbesondere wenn kommerzielle, politische, religiöse oder staatliche Interessen hinter der Generierung und Aufrechterhaltung virtueller Welten stehen.
– Madary und Metzinger (2016)
Allerdings ist diese Plastizität des Bewusstseins nicht auf die Ebene behavioraler Eigenschaften beschränkt. Die erwähnten Verkörperungsillusionen sind gerade deshalb möglich, weil das menschliche Denken, Verhalten und Handeln derart verformbar ist, sodass die eigene Verkörperung (z.B. das eigene Spiegelbild o.Ä.) falsch dargestellt werden kann. Derartige Wahrnehmungsverzerrungen können durch gänzlich normale Gehirnaktivitäten entstehen und benötigen dabei nicht notwendigerweise neuronale Strukturveränderungen. Illusionen, die natürlicherweise in Träumen erlebt werden, Phantomschmerzen, außerkörperliche Erfahrungen oder seltenere Störungen wie die Körperintegritätsidentitätsstörung (BIID) sind Beispiele hierfür. (Brugger, Kollias, Müri, Crelier, Hepp-Reymond & Regard, 2000; Metzinger, 2009b; Hilti, Hänggi, Vitacco, Kraemer, Palla & Luechinger, 2013: Ananthaswamy, 2015; Windt, 2015). Die sogenannte Identifikationseinheit („unit of identification“, UI), die Metzinger behandelt (2013), das heißt der bewusste Inhalt, der den Begriff des „Selbst“ repräsentiert, kann nach den Ergebnissen der Bewusstseinsforschung verschoben werden. Dies dürfte der wesentlichste Grund dafür sein, warum VR- und AR-Technologien auf psychologischer Ebene besprochen werden müssen, denn sie besitzen die Fähigkeit die Identifikationseinheit eines Menschen zu manipulieren.
Direkte UI-Manipulationen: Fragilität der bewussten Objektivität
VR-Technologien zielen direkt auf denjenigen Mechanismus, den Menschen zur phänomenologischen Identifikation der Inhalte ihres Selbstmodells verwenden.
– Madary und Metzinger, 2016
Die zuvor vorgestellte UI ist autophänomenologisch gesehen diejenige Instanz, die Berichte des Typs „Ich bin das!“ entstehen lässt. Für jedes selbstbewusste System existiert solch eine phänomenale Identifikationseinheit, sodass ein einziges, bewusstes Wirklichkeitsmodell möglich wird. Die UI ist Teil dieses Modells und kann zu jedem Zeitpunkt durch spezifische Repräsentationsinhalte charakterisiert werden. Diese Definition der UI ist nur auf den ersten Blick recht restriktiv, denn sie erlaubt sehr wohl Zustände, in denen das eigene Körperbild o.Ä. von ihr differiert. Sie ist örtlich verrückbar, existiert also nicht persistent an einem festen Punkt, wie etwa genau im Zentrum hinter den beiden Augen eines Menschen. Sie kann beispielsweise aus dem Kopf heraus bewegt werden, wie es in wiederhol- und kontrollierbarer Weise durch direkte elektrische Stimulationen phänomenal erlebt werden kann, während die visuelle Perspektive der ersten Person mit ihrem Ursprung genau hinter den eigenen Augen verweilt (De Ridder, van Laere, Dupont, Menovsky & van de Heyning, 2007). Das heißt, dass die UI für Menschen dynamisch ist und sehr variabel sein kann. Ein Verschwinden ist nicht denkbar, denn es existiert immer eine minimale UI, die wahrscheinlich durch eine reine raumzeitliche Selbstpositionierung gebildet wird (Blanke & Metzinger, 2009; Windt, 2010).
Die Puppenhand-Illusion ist eine einfache lokal begrenzte Verkörperungsillusion. Probanden wird eine visuelle Hand an eine biologisch realistische Position projiziert. Sofern diese Puppenhand synchron mit der physischen Hand des Probanden, die selbst nicht sichtbar ist, gestreichelt wird, erleben die jeweiligen Personen die Puppenhand als ihre eigene (Botvinick & Cohen, 1998; Tsakiris & Haggard, 2005). Die Frage, wie weit solche Illusionen wirken können, konnte diese partielle Verkörperungsillusion nicht beantworten. Lenggenhager und Kollegen (2007) nahmen das beschriebene Versuchsaufbauprinzip auf, um eine Vollkörperillusion zu erschaffen.
Die Probanden nutzten eine VR-Brille, um in einem Live-Video-Feed ihren eigenen oder einen anderen Körper in kurzer Entfernung vor ihrem eigentlichen Standort beobachten zu können. Sobald sie ein Streicheln ihres fiktiven Körpers sahen und gleichzeitig sie selbst das Gleiche tastsensorisch erlebten, berichteten einige Probanden, dass der beobachtete Körper vor ihnen ihr eigener sei. Zwar ist dieser Versuchsaufbau viel fragiler als die Puppenhand-Illusion, sie gewährt allerdings neue Einsichten in die Konstruktion unseres bewussten und körperlichen Selbstmodells im Gehirn (Metzinger, 2014). Weitere Resultate, wie etwa von Maselli und Slater (2013), die beweisen konnten, dass ein taktiles aus der realen Umgebung stammendes Feedback (z.B. das Streicheln) für eine Verkörperungsillusion gar nicht notwendig ist, skizzieren einige Risikokategorien und Wege der Plastizität des menschlichen Geistes:
- Die menschliche Kontextsensitivität ist tiefverwurzelt und wirkt flächendeckend, was möglicherweise bis dato unbekannte, epigenetische Merkmale einschließt.
- Es gibt Hinweise darauf, dass das Verhalten stark von Umwelt und Kontext beeinflusst werden kann.
- Verkörperungsillusionen können unter Laborbedingungen relativ leicht induziert werden, sodass die menschliche Identifikationseinheit gezielt angesteuert werden kann.
Summa summarum können die besagten Punkte als ein Argument aufgefasst werden, das besagt, dass nicht nur unerwartete psychologische Risiken auftreten können, wenn Verkörperungsillusionen missbraucht oder rücksichtslos verwendet werden, sondern dass im Zuge der Minimisierung von psychosozialen Kosten eine ethische Relevanz diesem einbeschrieben ist (Madary & Metzinger, 2016).
Anhaltende Effekte: Welche Auswirkungen haben Verkörperungsillusionen?
Für Wissenschaftler ist die Frage nach der Existenz psychologischer Einflussmomente positiv zu beantworten. Die vorgestellten Studien legen nahe, dass die VR-Technologie neuartige Risiken in sich birgt, die die Ergebnisspannen bereits bekannter, traditioneller psychologischer Experimente in isolierten Umgebungen sprengen und somit als neue Medientechnologie für die Allgemeinheit begutachtet werden sollte. Das sogenannte „Virtuelle Gruben“– Experiment von Meehan und Kollegen (2002) ist ein wichtiges Beispiel. Probanden wird per VR-Brille eine virtuelle Umgebung präsentiert, in der sie an der Kante einer tiefen Grube stehen. In einer Variation wurden sie dazu angeleitet, sich über die Kante hinauszulehnen, um einen Ball auf ein vorgegebenes Ziel am Grubenboden fallen zulassen. Um die Illusion zu verstärken, steht der Proband während der Experimentdurchführung im Labor am Rand einer hölzernen Plattform, die nur circa 4 Zentimeter hoch ist. Trotz des Wissens darum, dass man nicht in Gefahr ist, tatsächlich nicht am Rande einer tiefen Grube steht, zeigten Probanden erhöhte Stresszeichen wie etwa eine signifikant erhöhte Herzfrequenz oder Hautleitfähigkeit. Eine weitere Variation demonstriert, wie Probanden Probleme damit haben, einen virtuell dargestellten Balken als Brücke zu verwenden. Im Labor wurde ein echter, hölzerner Balken genau dort platziert, wo sich der virtuelle befand. Auch hier wurden erhöhte Stresszeichen gemessen, obwohl der reale Balken bei jedem Schritt Sicherheit rückmeldete. Selbst das bereits zuvor erwähnte Milgram Experiment konnte in einer VR-Variante reproduziert werden: Die jeweiligen Versuchsteilnehmer reagierten, als ob die Schocks, die sie verabreichten, tatsächlich existieren würden, obwohl sie wussten und überzeugt davon waren, dass das gesamte Experiment nur virtuell Auswirkungen haben kann (Slater, Antley, Davison, Swapp, Guger & Barker, 2006).
Neben dieser emotionalen Einflussnahme per Immersion, geben erste VR-Experimente Hinweise darauf, dass auch Verhalten direkt beeinflussbar ist. Ein Beispiel hierfür wäre der von Yee und Bailenson (2007) untersuchte „Proteus Effekt“, der auftritt, wenn Probanden ihr Verhalten basierend auf dem Aussehen ihres Avatars an jenes angleichen, das ihrer Überzeugung nach von anderen erwartet wird. Besaß eine Versuchsperson beispielsweise einen größeren Avatar, so verhandelte diese aggressiver für ihre Interessen als diejenigen, die einen kleineren steuerten. Die im virtuellen Raum praktizierte Verhaltensänderung kann über längere Zeiträume hinweg andauern, selbst wenn die betreffende Person den virtuellen Raum längst verlassen hat. Hershfield und Kollegen (2011) beschreiben solch eine dauerhafte psychologische Wirkung: Probanden, die im virtuellen Raum in Relation zu ihrem Alter einen etwas älteren Avatar verkörpern sollten, neigten tendenziell über einen längeren Zeitraum dazu, mehr Geld für ihren Ruhestand zurückzulegen, nachdem sie die virtuelle Umgebung verlassen haben. In eine ähnliche Richtung deutet auch das „Superman“-Experiment (Rosenberg, Baughman & Bailenson, 2013): Jeder Versuchsteilnehmer sollte in einer virtuellen Stadt verschiedene Aufgaben erfüllen. Hierfür durften sie entweder per Helikopter fliegen oder sich daran versuchen, selbst wie Superman durch die Luft zu gleiten. Diejenigen, die sich für die Macht des eigenständigen Fliegens entschieden, zeigten danach vermehrt – wie die Autoren es nannten - „altruistisches Verhalten“. Beispielsweise halfen sie im Anschluss an das Experiment dem Versuchsleiter augenscheinlich zufällig verschüttete Stifte aufzusammeln.
Klar ist, dass diese Ergebnisse zumeist nur Tendenzen sind. Dies bedeutet, dass sie bezüglich ihrer Effektstärke und Erklärungskraft nicht gänzlich so gesichert sind, als dass man etwa von einer handfesten Problematik auf behavioraler Ebene sprechen könnte. Nichtsdestotrotz sind sie statistisch gesehen keine durch Zufall generierten Ergebnisse, sondern weisen stattdessen eine gewisse, kontrollierbare Systematik auf, die eindeutig in die Richtung zeigt, dass VR- oder auch AR-Technologien aufgrund ihrer höheren Immersion das Potenzial besitzen, Menschen direkt zu beeinflussen. Davon ausgehend ergibt sich eine gewisse ethische Relevanz bei der Einschätzung und dem Umgang mit VR oder AR Technologien.
Potenzielle Risiken: Auswirkungen auf Individuum und Gesellschaft
Alle geschilderten Experimente werfen wegen ihres wissenschaftlichen Charakters noch mehr Fragen als zuvor auf. Die daraus erwachsende Problematik ist die Kombination aus langwieriger Forschung und gegensätzlich immens schneller wirtschaftlicher Verbreitung von VR- und AR-Geräten. Die bisher gesicherten Tendenzen erfüllen nicht die Reduzierung verschiedener Probleme auf emotionaler, kognitiver respektive behavioraler Ebene, sondern öffnen gegensätzlich ein weites Forschungsfeld. Mittlerweile sind die behandelten Technologien Bestandteil der Unterhaltungsindustrie und ermöglichen somit Menschen sich für längere Zeiträume in virtuellen Räumen aufzuhalten. Eine Parallele hierzu wäre etwa die Einführung von Smartphones und sozialen Netzwerken, die gleichsam eine zunehmende Online-Zeit bedeuteten, die momentan von der Forschung ebenfalls untersucht wird. Aus fast allen wissenschaftlichen Abhandlungen zum Thema „Virtuelle Realität“ ist abzulesen, dass Risiken und ethische Bedenken, die bereits aus den frühen Tagen des Internets bekannt sind, wiederauftauchen werden, allerdings mit der zusätzlichen psychologischen Note der Verkörperungsillusionen und deren emotionalen wie behavioralen Auswirkungen. Mittlerweile ist eindeutig sichergestellt, dass die Internettechnologie längst damit begonnen hat, die menschlichen Selbstmodelle und somit die psychologische Struktur in gewissen Bereichen zu verändern. Die Kombination aus Virtualisierung- und Robotik-Technologien kann diese Entwicklung erheblich beschleunigen (Madary & Metzinger, 2016). Videospiele, die hinsichtlich der Immersion eine technologische Speerspitze bilden, sind nicht nebenstehend, sondern bilden ein wesentliches Zentrum dieser Entwicklung.
Der aus den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts berühmt-berüchtigte Fall namens „Mr. Bungle“, der durch das Spiel „LamdaMOO“, einem rein auf Text basierendes Mehrspielerrollenspiel (Multi User Dungeon), bekannt wurde, demonstriert die Relevanz der präsentierten Forschung recht eindrücklich: Der Nutzer „Mr. Bungle“ nutzte ein sogenanntes „Voodoo Doll“ Programm, um die Aktionen anderer Charaktere in einem Haus zu kontrollieren. Er zwang sie dazu, eine Reihe zum Teil stark verstörender, sexueller Handlungen durchzuführen. Die Spieler waren empört und zumindest einer der betroffenen Nutzer musste sich aufgrund dieser virtuellen Vergewaltigung in psychologische Behandlung aufgrund eines Traumas begeben (Dibbell, 1993). Weder die Drastik noch der Verlauf ist das Entscheidende an diesem Fall. Allein die Tatsache, dass textbasiert solche Auswirkungen auf die menschliche Psyche beobachtbar sind, zeigt die Relevanz, denn die textliche Hemisphäre ist längst durchbrochen. Alsbald wird es möglich sein, in eine vollständig virtuelle Umgebung einzutauchen, anstatt nur davon zu lesen. Die Aufklärung und Präsentation der verschiedenen Forschungsergebnisse in den Bereichen …
- Langfristiger Konsum
- Vernachlässigung beziehungsweise Verkennung der real-physikalischen Umwelt und des eigenen Körpers
- Gefährliche Inhalte
- Privatsphäre
… stellen eine wesentliche Herausforderung für Verbände, Publisher, Entwickler und Konsumenten dar, die aufgrund der in der Einleitung präsentierten Verkaufszahlen besser gestern als heute angegangen werden muss (vgl. z.B. Weber, 2017).
Literaturverzeichnis
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