In den vergangenen Jahren ist es auch auf einer politisch-gesellschaftlichen Ebene, also völlig abseits von technischen Errungenschaftsfantasien, interessant geworden, die Entwicklungen des World Wide Web zu beobachten. Spätestens seit 2018 und dem Skandal rund um das britische Datenanalyseunternehmen Cambridge Analytica, werden kritische Stimmen über die Entwicklungen des Web 2.0, also des interaktiven Internets, lauter.
Erschienen am
29. Oktober 2020
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Nicht zuletzt hat Mitgründer Chris Hughes in der New York Times seine Perspektive auf eine potentielle Aufteilung der Marken unterhalb von Facebook zum besten gegeben – auf Spaltung des Machtkonglomerats Zuckerberg(s). Während „The Social Network“ (David Fincher, 2010) bereits vor neun Jahren eine – nur zu Teilen den Tatsachen entsprechende – Persönlichkeitsstudie des Mark Zuckerberg lieferte und eine Dystopie der ubiquitären Daten irgendwo zwischen Orwells „Nineteen Eighty-Four“ (1949), „WarGames“ (John Badham, 1983) und „Ex Machina“ (Alex Garland, 2015) präsent ist, sind die gesellschaftlichen Einflüsse der Datengesellschaft in Videospielen eher im Bereich des Heldentums angesiedelt: „Call of Duty“, spätestens mit „Call of Duty: Black Ops 2“ (Treyarch, 2012) in der nach-wie-vor-Zukunft 2025 angekommen, präsentiert die Übermacht der Übermacht; in „Syndicate“ (Starbreeze Studios, 2012) mag der Ursprung der Daten zwar negativ sein, der Antiheld stimmt dennoch zuversichtlich. Ausnahmen sind kleine Produktionen wie beispielsweise „Orwell“, das natürlich auch in Rückbezug auf den o.g. Roman die Massenüberwachung in Spielform aufarbeitet.
Die Prämisse von „Watch_Dogs“ (Ubisoft Montreal, 2014) hängt zwar genuin an dem Themenkomplex Big Data und konnotiert diesen auch durchaus negativ – in den Köpfen der Spieler*innen ist der Titel eher aufgrund der Tatsache, grafische Fidelitätsversprechen der achten Konsolengeneration nicht entsprechend der eigenen Präsentation einhalten zu können, geblieben.
Spielerisch war das Produkt zum Zeitpunkt der Veröffentlichung wohl eher der Inbegriff des durch Publisher Ubisoft geprägten „Open World“-Begriffs, in dem interessante Aspekte in der Gestaltung einer (glaubwürdigen) Welt zugunsten sammelbarer Elemente weniger ausgestaltet werden. Dennoch waren die Verkaufszahlen anscheinend so gut, dass man sich nach der Veröffentlichung zur Entwicklung eines Nachfolgers hinreißen ließ. Das 2016 erschienene „Watch_Dogs 2“ (2016) verschob die Handlung in das grelle San Francisco, wo Spielwelt abermals durch aktive Nutzung der Datenmassen verändert beziehungsweise dem Spielfluss so gefolgt werden kann.
Abseits der in beiden Fällen eher im Hintergrund interessant erzählten Geschichten ist durchaus beachtenswert, inwiefern das gewählte Setting sehr ähnliche Spielelemente in völlig unterschiedlichem Licht erscheinen lässt. Die Parallele zur Ur-3D-Trilogie von „Grand Theft Auto“ und ihrem Wechsel vom neblig-grau-trüben „Grand Theft Auto III“ (Rockstar North, 2001) hin zum neon-pinken „Vice City“ (2002) und sandig-beigen „San Andreas“ (2004) lässt sich durchaus ziehen – obwohl die Spielelemente natürlich Veränderungen erfuhren, war die Spielerfahrung maßgeblich durch Umgebung und Charaktere bestimmt.
„Watch_Dogs“ schaffte an dieser Stelle etwas ähnliches: Von einem ebenfalls grau-neblig-regnerisch-düsteren Chicago mit einer persönlichen Rachegeschichte ohne nennenswerte Charaktere ausgehend, nagte „Watch_Dogs 2“ eher an Popkultur und zitiert – jedoch ebenfalls ohne wahren Erinnerungsgrund – aus Film, Videospiel und Referenz zu sich selbst. Das Plot gegebene Ziel ist hierbei weniger relevant, denn im Fokus stehen vornehmlich die Veränderungsmöglichkeiten an der Spielwelt. „Watch_Dogs Legion“ soll im kommenden Jahr nun eine weitere Fassung des Datenwahnsinns liefern und verlässt hierfür die mannigfaltigen US-amerikanischen Großstädte zugunsten des (derzeit noch) europäischen Londons. Obwohl ein solcher Schritt derzeit ja en vogue zu sein scheint, ist Umstand des Beworbenen immerhin Politik und Gesellschaft am Ende des Wandels hin zur Technokratie des Datenkapitalismus.
Inhaltlich setzt der Titel mit seiner zukunftsschwangeren Darstellung der Inselhauptstadt eigentlich genau dort an, wo Martin Baer und Claus Wischmann in ihrer Dokumentation über das Bild Zeitalter der digitalen Reproduzierbarkeit („Der illegale Film“) kürzlich aufgehört hatten: Zwischen Copyright, Datenschutz und (technisch) möglicher Kreativität entsteht die Synthese der Entwicklung einer Welt zu ihrem eigenen Abbild inmitten ebenfalls technisch (möglicherweise) machbarer Auswertung ebendieses. Nicht nur durch das omnipräsente Überwachungsthema, sondern auch der Spielfluss schaffen an dieser Stelle Zusammenhang: Was fördert die stete Aufnahme, sei es per Streaming, Videoaufzeichnung oder – retro! – Screenshot, stärker als die Möglichkeit, in die Rolle Haut jeder Figur zu schlüpfen und mit ihr die sicherlich umfassend ausgestaltete Welt zu erkunden und zu erobern? Obwohl der Themenbereich, sicherlich ungewollt auf andere Art und Weise als von der Prämisse ausgehend vermutet, der Massenüberwachung seit Beginn der Reihe zentral ist, scheint auch der dritte Ausflug zum Kampf gegen „ctOS“ nur ebendies zu sein: Ein moralischer Kampf, in dem ein dürftige Rechtfertigungen für die Taten der Protagonist*innen als gesellschaftliches Aufstreben oder gar Revolution zelebriert werden. Wo die Aktionen der beiden Vorgänger noch durch grobes Unwissen der Bevölkerung um der autoritären Methoden der Blume Corporation begründet wurden, ist der anscheinend vorhandene vollständige Konsens der Massen kaum denkbar. Anders gesagt: Es ist fraglich, inwiefern Mitarbeiter*innen eines zumindest im Schein technokratischen Machtkonglomerats die klassische Form der Bourgeoisie, wie sie seit 1789 Usus ist, ersetzen kann.
Große Videospielproduktionen, die sich auch zwanzig Jahre nach Beginn des Spielberg’schen WW2-Booms zumindest in erzählten Geschichten immer noch in der Zahl ihrer Sequels und Prequels definieren, verfallen eben deshalb weiterhin der Ideenlosigkeit und dem Wunsch, Trends zu folgen, anstatt zu selbst zu setzen. „Watch_Dogs: Legion“ wird, so viel steht fest, wohl keine Ausnahme sein.