Blasphemous Der moderne Hieronymus Bosch

Kim Selbach und Hannes Letsch10 Minuten Lesezeit

Übersicht
The Games Kitchen, 2019

Wenn es um das Thema Action-Rollenspiele geht, lässt sich mittlerweile eine große Variation an Titeln feststellen. So unterschiedlich ihre Kampfsysteme, Combo-Moves und Skillbäume auch sind, kommen sie oft bei mythischen, erbarmungslosen und düsteren Storylines auf einen Nenner. „Blasphemous“ (The Game Kitchen, 2019) ist als sogenannter „Side-scrolling Action Platformer“ einer dieser Titel, welcher im Gegensatz zu Genregrößen wie „Dark Souls“ (FromSoftware, 2009) nicht auf eine Third-Person Perspektive setzt, sondern mit seiner 2D-Ansicht in „Pixelart“ recht retroartig wirkt. Eine Designentscheidung, welche dennoch keine Abstriche in punkto Atmosphäre bedeutet. Was „Blasphemous“ zum abstrakten und spielbaren Kunstwerk nach Hieronymus Bosch macht, liegt dabei in der Paarung von klassischer Kunst mit klassischem Plattform-Adventure Videospiel. Der Spieler kämpft sich als „The Penitent One“ auf Deutsch „der Büßer“ durch komplexe Etagen in bekannter Metroidvania Tradition.

Blasphemous - Launch Trailer
The Game Kitchen, 2019, YouTube, 2019

The Penitent One

Sämtliche Spielmechaniken schmiegen sich dem von The Game Kitchen gesteckten Thema an. Der Spieler macht sich in „Blasphemous“ auf eine Pilgerreise durch dunkle Zeiten einer Weltreligion. Auch wenn es im Verlauf des Spiels zu keiner Zeit zu Nennungen heiliger Personen oder christlicher Leitmotive kommt, wird beim Betrachten der Kulissen und seiner Darstellern beziehungsweise Figuren klar, dass es sich beim gesteckten Thema um eine abstrahierte Geschichte der christlichen Inquisition handeln muss. Das macht sich allein in den aufwendig durch Pixelkunst gestalteten Charakteren bemerkbar, die wie „The Penitent One“ als Büßer und gleichzeitig Bringer der Buße mit seinem Schwert „Mea Culpa“ - lateinisch für „Meine Schuld“ - nicht nur als Hauptfigur und spielbarer Charakter fungiert, sondern gleichzeitig wie eine Art Spiegel den Spieler mit den eigenen Taten vertraut macht.

The Game Kitchen, 2019

Anhand des von The Game Kitchen gestellten „Artworks“ zeigt sich, wie „The Penitent One“ durch seinen markant auffälligen Hut mit Dornenkranz spanisch-christliche Ostertraditionen des Büßens repräsentiert und seine eiserne Maske nicht nur mit der im Jahre 1990 in Kalkriese gefundenen römischen Reitermaske übereinstimmt, sondern auch seine Kernbedeutung als Spiegel des Gegenübers trägt. Somit könnte man ausfallend behaupten, dass der Spieler mit einem schuldsprechenden Partyhut und einer „Eigenreflexionsmaske“ in eine Spielwelt entlassen wird, die es ihm ermöglicht, den abstrahierten Wahnsinn und die Dunkelheit der spanischen Inquisition im 13. Jahrhundert am eigenen Computerleib zu spüren.

In order to make players identify with The Pentinent One in the way that the game inspired us, we made the decision to dispossess him of his face, thus granting him a halo of mystery and anonymity. To accomplish this, we made sketches of all kinds of masks, looking for references in different cultures and historical periods without finding the expression (or lack thereof) sufficiently crude and shocking that we needed, until we discovered the images of the Roman imperial masks […]

– Enrique Cabeza, The Art of Blasphemous, S.22
The Game Kitchen, 2019

So heißt es im Verlauf der Story, dass der Büßer mit jedem getöteten Wesen selbst durch sein Schwert „Mea Culpa“ verletzt wird und für seine Taten büßt. Im Spiel wird man jedoch nur durch ungenaues Parieren und Unachtsamkeit bestraft. Deshalb winkt „Dark Souls“ hier auch mit dem Zaunpfahl. Wer stirbt, lässt kein Blut zurück oder seine Ausrüstung. Stattdessen wird Schuld, die durch das Töten von Gegner ungehemmt entsteht, zurückgelassen. Jeder Tod lässt mehr dieser zurück und verlässt den „Penitent One“, außer man sucht den Todesort auf, um die Schuld wieder auf sich zu nehmen. Je mehr der eigenen Schuld in der Welt existiert, desto härter wird es Tränen anzuhäufen, das heißt man wird immer seltener in die Lage versetzt magische Attacken ausführen zu können. Alternativ zum Aufsammeln der eigenen Schuld ist es möglich an einer gesonderten Statue seine Sünden zu beichten, um seine verloren geglaubte Schuld tatsächlich aus der Welt getilgt zu haben. Diese Statuen sind wie alle anderen Schreine und Speicherpunkte perfekt in den verschiedenen Leveln verteilt. Genau so, dass man ab und an hofft, nur noch ein paar Meter durchhalten zu müssen, um endlich die Erlösung oder Gesundheitsheilung zu erhalten. Eine perfekte Übersetzung biblisch-kirchlicher Erzählung in ein Videospiel.

The Game Kitchen, 2019

Für eingefleischte Action-Rollenspiel Fans lässt sich in „Blasphemous“ demnach alles finden, was das Nervenkostüm begehrt. Fähigkeitspunkte für Spezialattacken und Kombinationserweiterungen können nach und nach erspielt und am „Mea Culpa Altar“ eingelöst werden. Zusätzlich gibt es wie üblich diverse passive Skills beziehungsweise mit Sagen behaftete Utensilien, welche im Inventar angelegt werden können, um die makabre Welt zu erkunden. Alles im Spiel strahlt Schmerz aus. Sofern es doch Personen oder Wesen im Spiel gibt, die nicht Qualen leiden, wollen sie diese erleiden. The „Pentinent One“ ist somit wie alles im Spiel Dargestellte eine religiöse Ikonographie, die durch die spanische Kultur angeleitet wird. Alles spricht und handelt, als ob das jeweilige Wesen am Rande des Verstandverlusts steht.

Hieronymus Bosch‘ Assoziationen in einem Spiel

Was „Blasphemous“ zum lebendigen Kunstwerk werden lässt, liegt zweifelsohne im aufwendigen Artwork und den Pixel für Pixel gebauten Kulissen, welche fast schon wie Gemälde ins Spielerauge stechen. In Punkto klassischer Kunst hat The Games Kitchen ihre Hausaufgaben gemacht. Hieronymus Bosch (1450- 1516), ein Maler der Renaissance, der im 13. Jahrhundert oftmals Auftragsarbeiten für Adelige und Priestertum erstellte, gilt hier als Vorzeigekandidat für Abstraktion und das „Offenlassen“ für Interpretationen in christlichen Motiven von Erde, Himmel und Hölle. Als Zeitzeuge der christlichen Inquisition, unterscheidet er sich stark von anderen Malern der Renaissance. Die Hauptwerke des Niederländers gehören bis heute zu den merkwürdigsten und verblüffendsten Werken, die ein Mensch gemalt hat. Zu seiner Zeit, als weitgehend daran geglaubt wurde, dass der Teufel sowohl eine physische als auch eine spirituelle Realität sein kann, mussten seine Darstellungen dämonischer Aktivitäten und die darin einbeschriebene Zwangslage des Menschen so furchterregend gewesen sein, als ob das Fegefeuer selbst in Erfüllung ginge.

Sein Verzicht auf den Fluchtpunkt war im Gegensatz zu anderen Malereien der Renaissance ein großer Rückschritt und ist zudem ein markantes Merkmal alter Kirchenmalerei. In Zeiten, in denen der Mensch plötzlich als Mittelpunkt galt, kann ein solcher Rückschritt sicherlich auch Aussagen beherbergen. Deshalb transportiert „Blasphemous“ trotz zweidimensionaler Ansicht auch große Räume für Interpretation wie Hieronymus Bosch es tat. Die knackige Spielherausforderungen und die für Verwirrung sorgende Abstraktion im Schatten der alten Kirche machen das Spiel zu einer geheimnisvollen, düsteren und gelegentlich nervenzerreibenden Erfahrung. Während „Agony“ und ähnliche Versuche das Gruseln gegen wahrhaftigen Schrecken in Videospielen auszutauschen eher scheiterten, erfüllt „Blasphemous“, was Bosch schon Jahrhunderte zuvor in statischem Bild gelang. Wie dessen Werke kreierten die Entwickler aus Spanien eine verstörende Anziehungskraft, die eine ständige Unsicherheit über den Zweck der Existenz der eigenen Spielfigur aufrechterhält. Man fühlt sich als Eindringling, nicht der Welt zugehörig und dennoch zur Handlung gezwungen, weil ein Stillstehen Unbehagen verspüren lässt.

Bosskämpfe wie Bosskämpfe sein sollen

The Game Kitchen, 2019

„Blasphemous“ versucht die klassische Herangehensweise zur Rhythmisierung eines Videospiels umzusetzen. Sogenannte Bosskämpfe setzen ähnlich den Kapiteln in Bücher eine gewisse Taktung. Der Detailgrad sowohl spielmechanisch wie optisch und auditiv ist herausragend. Jeder Boss spielt sich anders und bleibt aufgrund der Verschiedenheit wie Schwierigkeit im Gedächtnis des Spielers, obwohl alle das allgemeine Thema des Leids verkörpern. Jeder Kampf diktiert dem Spieler sich an einen gewissen Rhythmus zu gewöhnen, sich immer aufs Neue am Controller anzupassen. „Blasphemous“ setzt auf methodisches Vorgehen, fordert analytisches Denken beim Scheitern und bestraft hart, wenn stoisch versucht wird eine aber nicht passende Taktik zu verfolgen.

The Game Kitchen, 2019

Die Bosskämpfe sind die Verschmelzung aller gesellschaftlich-kulturellen Aspekte, die die Entwickler als Basis des Spiels verwendeten. Jeder Boss ist in gewisser Weise äußerst übertrieben in seiner Art und Weise, wie er Traurigkeit, Depression und Schmerz verkörpert. Ohne Scham und ohne irgendeine Form der Entschuldigung wird beispielsweise „Ten Piedad“ dem Spieler den Weg gestellt, der den Kopf der Marienstatue, die ihn hielt, herunterreißt, um Wut entbrannt auf die eigene Spielfigur einzudreschen. Eine Kreatur aus geflochtenem, alten Fleisch und Pflanzenwurzeln, dessen Körper mit Nägeln bedeckt ist und einen verwesten Pferdeschädel mit Ziegenhörnern besitzt, übernimmt, was im Jahre 1499 als Leichnam Jesu Christi gemeißelt wurde. Das offensichtliche Tribut an Michelangelos Pietà verkörpert die künstlerische wie spielmechanische Vision des Spiels – der erste Boss, der entwickelt wurde und Aushängeschild in allen Demos und Trailern vor Veröffentlichung war.

The Game Kitchen, 2019

Expósito, das Riesenbaby, ist möglicherweise der beliebteste Boss in „Blasphemous“ und Beweis, dass nicht nur das Mittelalter und die Neuere Zeit Teil des Spiels sind. Die riesige aus Weiden geflochtene Puppe, die das Baby hält, erinnert an Christopher Lees „The Wicker Man“ aus dem Jahr 1973. Die Form und Haltung der Puppe lässt das Kleinkind glauben, die eigene Mutter sei immer noch am Leben, obwohl die Augen des Kindes entfernt wurden. Tatsächlich halten nur die verbrannten Überreste dieser es, der Rest verbrannte auf dem Scheiterhaufen nach Urteilsvollstreckung. Das Spiel schafft Leid, indem es die Idee des „Expósito“ (Ausgesetzte), das für Pflegeheimkinder Spanien verwendete wurde, wird so interpretiert, dass es sich nahtlos in die künstlerische Ästhetik des 14. bis 17. Jahrhunderts eingliedert.

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