Als der italienische Dichter und Geschichtsschreiber Francesco Petrarca um 1350 nach Christus ein Wort begrifflich gebrauchte, wusste er womöglich nicht gänzlich, was er damit lostreten würde. „Tenebrae“, das heißt die Dunkelheit oder Finsternis schien seiner Deutung nach zwischen der „nova et antiqua aetas“ zu herrschen. Ab 1373 wurde diese vermeintlich düster-dunkle Zeit begrifflich in „medium tempus“ oder „medium aevum“ umgemünzt. Das Mittelalter wurde definiert. Es war erkennbar ein Begriff, der im Kontext der Renaissance des 13. und 14. Jahrhunderts eine Funktion erfüllte: Weil sich diese als Wiedergeburt der Antike verstand, wurde versucht, eine klare Abgrenzung vom Zeitraum dazwischen durch den Gebrauch eines abfälligen Begriffes zu setzen. Das „Zwischenalter“, dem Ding dazwischen, das man auch gerne vergessen könnte, wurde nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt, weil darin kaum etwas zu erkunden sei. Würde man das wenige Faszinierende dieses mittleren Alters in den Blick nehmen, dann, so etwa Petrarca, würde sich dies kaum lohnen, denn es handle sich hierbei um die rein negative Seite des Menschendaseins. „Kingdom Come: Deliverance 2“ sticht als Erweiterung und Fortführung von „Kingdom Come: Deliverance“ in diese Periode und Sichtweise, indem es eine große, systematisch historisch orientierte Spielwiese (er)schafft, die nach harten, simulationsähnlichen Spielregeln funktioniert und mit eingebetteter sowie selbst erstellbarer Handlung jongliert.
Erschienen am
04. Februar 2025
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Die Entwickler von Warhorse Studios sitzen erwartbar nicht auf dem Stuhl Petrarcas, sondern halten ihm gegenübersitzend ein Bild des Mittelalters entgegen, das zur Hälfte die vorgeworfene Düsternis bestätigt. Die andere Hälfte erweitert aber im positiven Sinne: technische wie medizinische Innovation, sozial-gesellschaftliche Entwicklungen, architektonische Spitzenleistungen; Böhmen wird zum Schauplatz einer historisch angehauchten, politisch-gesellschaftlichen Geschichte, in der zusätzlich eine fiktional-individuelle stattfindet.
Das Mühselige zuvorderst
Man könnte an diesem Punkt vergleichbar zur Kontroverse des ersten Teils abermals die Kritik bemühen, dass die Entwickler um Creative Director Daniel Vávra versuchen würden, rechtsnationale Ideen in realgetreue Simulationen einzuschleusen: Die Entwicklungsgeschichte des Franchise war nicht nur, aber vor allem wegen dieser ermüdenden, ins Nichts führenden Diskussion holprig. Zwar wurde wiederholt festgehalten, dass es so scheint, dass etwa Daniel Vávra dem rechten Spektrum tschechischer Politikkultur zugeneigt sein könnte. Der benutzte Konjunktiv wurde aber zu oft zu schnell von einigen Diskutanten vergessen.

Vávras Faszination für die politischen und sozial-gesellschaftlichen Verhältnisse des mitteleuropäischen Mittelalters, die auch für das gesamte Entwicklerteam der Prager Warhorse Studios gilt, ist vielfach belegt. Eine absichtliche Vermischung von historischen Aspekten mit popkulturellen Elementen ist kein Novum, sondern seit Jahrzehnten etablierter Standard in Literatur, Film wie Videospiel. Es initiiert die Eröffnung einer Spielwelt, indem Anknüpfungspunkte für den modernen Menschen gesetzt werden. Dadurch wird eine Identifikationsplattform für den Spielenden geschaffen. Je breiter diese ausfällt, desto mehr Perspektiven finden ihren effektvollen Widerhall in dieser. Darin liegen aber Stolpersteine, denen sich niemand entziehen kann, wenn versucht wird, sich auf Basis dieser Eindrücke ein Wissensnetz etwa zum Thema „Mittelalter“ zu spinnen.
Denn wenn der streitbare Vávra, der sich gerne gegen unbändige Vorwürfe wehrt, beispielsweise argumentiert, dass die mittelalterliche Heiratspraxis rigide Mädchen mit 12 Jahren verheiraten wollte, dann ist das ein Erklärungsversuch, der einer Faszination entspringt, die auf einer laiengeschichtlich wackeligen Perspektive beruht. Die Unterscheidung zwischen popkulturellen Aspekten und historischen Fakten, die sich bestmöglich auf mehrere Quellenarten stützen, ist schwierig. Für den Geschulten wäre es ein Einfaches, die Aussage Vávras zu widerlegen: Beispielsweise legte das Decretum Gratiani des 12. Jahrhunderts und weitere kirchliche Schriften das Heiratsalter auf mindestens 12 Jahre fest. Historische Kirchenregister des mittelalterlichen Böhmens und andere Regionen Mitteleuropas führen öfters denn nicht Frauen im Alter von 14 bis 18 Jahren insbesondere in städtischen wie adligen Kreisen als Braut auf. Das Prager Stadtarchiv unterstreicht recht umfänglich, dass Mädchen in städtischen Umfeldern typischerweise nicht unter 14 Jahren verheiratet wurden. Man könnte weitergehen, indem man medizinische Texte einer Hildegard von Bingen und eines Arnaldus von Villanova hinzuzieht oder auf die Fehlinterpretation hinweist, dass bei der ersten sexuellen Begegnung Zeugen zwingend anwesend sein mussten. Daraus aber postwendend die Unterstellung zu knüpfen, dass Warhorse Studios versuchen würde, proaktiv Geschichtsverschleierung zu betreiben, überschreitet mehrere Grenzen des Akzeptablen.

Kurzum: Das Twitterprofil Vávras ist ein exemplarisches Sammelsurium an Aussagen, die zwischen Reaktanz, Missverständnissen, tatsächlichem Wissen und PR-Aktionen oszillieren. Die Verschiebung einer randständigen Diskussion um „korrekt und falsch“ ins Zentrum zur Behandlung der Werke „Kingdom Come: Deliverance“ oder „Kingdom Come: Deliverance 2“ schießt in einem gewissen Winkel am Sachverhalt vorbei. Sie verkennt, dass es um ein Videospiel geht, das primär Unterhaltung, das heißt Spielspaß bieten will, erstellt aus der Perspektive von Geschichtsenthusiasten und nicht von Wissenschaftlern mit dem Anspruch der Realitätsrekonstruktion. Selbst wenn seitens Warhorse Studios immer wieder nachlesbar betont wurde, dass versucht wird, eine realistische und tiefgründige Darstellung des mittelalterlichen Böhmens anzubieten, so darf doch daraufgesetzt werden, dass der mündige Leser wie Journalist PR-Aussagen von belastbarer, persönlicher Intention zu unterscheiden vermag.
Ein grob gepinselter Rahmen
„Kingdom Come: Deliverance 2“ soll Anfang des 15. Jahrhunderts im Jahr 1403, circa 20 Jahre vor den Hussitenkriegen spielen, die zwischen 1419 und 1434 im Königreich Böhmen und dessen angrenzenden Ländern nachhaltig wirtschaftliche, politische wie gesellschaftliche Umwälzungen verursachten. Wenn im Spiel der Eindruck entsteht, dass sich langsam aber sicher bürgerkriegsähnliche Zustände etablieren, dann ist dies ein Beispiel für einen popkulturellen, dramaturgischen Handgriff der Entwickler, um das Spiel für die moderne Denkweise des Spielers zu öffnen. Ohne Staat keine Bürger. Und weil das notwendige Staatsgebilde für einen Bürgerkrieg nicht bestand, wird eine Brücke zu tschechischen Nationalhelden wie etwa Jan Žižka von Trocnov geschlagen, der ein bedeutsamer Heeresführer in den Hussitenkriegen war. Mythen der Entstehung der tschechischen Nation werden aufgegriffen und in ein Gesamtes namens „Kingdom Come: Deliverance 2“ gegossen. In diesen Farbtopf tunkt vor allem der Pinsel zur Konstruktion des ersten Teils oftmals ein. Es ist eine Reduktion einer gesellschaftlichen Komplexität, die vom Entwicklerstudio künstlerisch bestimmt wurde. Einerseits wird dadurch der Aufbau einer kohärenten Spielwelt um ein Vielfaches einfacher und es werden stereotypische Erwartungen, die durch andere mittelalterliche Filme, Videospiele und Literatur geschürt wurden, aufmerksamkeitsdienlich adressiert. Andererseits wird dadurch aber auch Potenzial verschenkt, wenn es darum geht, eine Geschichte zu erzählen, die durch Facettenreichtum und weniger durch Heldentum bindet.

Die Kritik an der beschriebenen Reduktion im ersten Teil wurde angenommen und ist in „Kingdom Come: Deliverance 2“ spürbar. Zwei bis drei Tage nach Teil 1 wird die Geschichte in einer Welt fortgesetzt, die vieles beim Alten belässt, aber facettenreicher ausstaffiert. Obwohl die Geschichte in der Spielwelt zwischen beiden Videospielen nahtlos ineinander übergehen soll, bemerkt man die Unterschiedlichkeit allein aufgrund des Optischen. Dabei wird noch stärker als im ersten Spiel erkennbar, dass es sich hierbei um einen sogenannten Reflektionsraum der momentan existierenden Gesellschaft und deren Erwartungshaltung an diese Epoche handelt. Das reiche Kuttenberg, eines der wichtigsten Städte des mittelalterlichen Böhmens, wird als ein Schmelztiegel verschiedener Religionen, Herkünfte und politischer Überzeugungen präsentiert; auch wenn das Frauenbild weiterhin auffallend eintönig faul ausgestaltet ist. „Kingdom Come: Deliverance 2“ lässt die Chance ungenutzt, verschiedene Rollen des weiblichen Geschlechts auszuführen. Das heißt, dass das Videospiel nur manchmal in stark stereotypische Gewässer eintaucht. Tut es dies, schadet es, weil die bedienten Stereotypen so sehr bekannt sind, dass das Interesse an der Spielwelt eher verblasst, als dass es befeuert.

Das Ganze wird als Open-World Rollenspiel in der Egoperspektive erlebt. Außerhalb von Zwischensequenzen und Gesprächen ist der spielbare Protagonist namens Heinrich nicht zu sehen. Der Spieler treibt sich in dieser Spielwelt mehr oder weniger autonom herum. Ähnlich zum ersten Teil wird eine schöne Einführung in eine problematische Situation gegeben, aus der man sich (unverschuldet) befreien muss. Es bleibt dabei dem Spieler gänzlich offen, wie er sich dabei anstellt. Ein leichtes Stolpern gibt es, weil anfangs der Spieler mit Haupt- und Nebenaufgaben zugeschüttet wird. Für den Kenner des Spielprinzips von Warhorse Studios verbleibt es ein gekanntes, kleines Übel. Für den Neueinsteiger kann es anfangs etwas überfordern, weil der Fokus zu sehr verloren geht. Der Balanceakt zwischen „embedded“, das heißt designter und „emerged“, das heißt vom Spieler selbst forcierter Handlung gerät ins Wanken, fällt aber nicht. In jedem Fall nimmt das Spiel sich für den Hauptcharakter Heinrich und seinen Freund und Lehensherr Hans von Capon Zeit. Es gibt beiden den Raum sich verschieden, womöglich sogar a-stereotypisch zu verhalten. Derber und manchmal auch unreifer Humor fungiert dabei als eine Art narratives Schmiermittel gegen die ungleiche Beziehung, sodass die ständisch-gesellschaftlich verursachte Ungleichheit beider auf menschlicher Ebene moderiert wird. Löblicherweise schafft es Heinrich nicht stereotypisch zum auserwählten Anführer, einem mittelalterlichen Superhelden, sondern er ist und bleibt Spielball in einem Intrigen- und Mächtespiel viel ressourcenstärkerer Persönlichkeiten und Herrscher, die man oftmals nicht zu Gesicht bekommt, weil sie sich der Logik der Spielwelt folgend in Kreisen bewegen, die einem Heinrich immer verschlossen bleiben werden.

Dass das anfängliche Schlamassel dem Ausgangspunkt des ersten Teils sehr stark ähnelt, ist etwas generisch. Der gesellschaftliche Aufstieg des Sohns eines Dorfschmiedes ist ein großer Teil der Geschichte des ersten Teils. Warum man nun abermals unnachgiebig mittel- wie rechtlos in den Staub zurückgedrückt wird, ist aus der Perspektive des „Narrative Designs“ nachvollziehbar, in der Logik der Spielwelt aber anzuzweifeln. Es ist unbestritten stilistisch dramatisch, das bedeutet für den Neueinsteiger ein gelungener Startpunkt „Kingdom Come: Deliverance 2“ kennenzulernen. Für den Kenner ist es eher ein Nackenschlag, weil ein abermaliges Aufraffen eingefordert wird. Ohne Vermögen leibeigene Aufgaben zu erledigen, wurde bereits im ersten Teil eindrücklich erlebt und hat sich daher etwas in seinem Reiz abgenutzt. Dem Spiel muss hierbei allerdings zugutegehalten werden, dass sich dieser Nackenschlag nicht als langwierig bis nachhaltig herausstellen wird. Das Spiel wird sowohl qua seiner Handlung als auch durch die möglichen Aktivitäten in der Open-World viele Aufstiegsmöglichkeiten bieten, sodass Protagonist Heinrich schnell wieder zu altbekannter Stärke zurückfindet.
Der Spiel-Loop im Durcheinander
Zwischen den einzelnen Hauptquests hat der Spieler alle Zeit der Welt, um sich zu orientieren. Das gilt auch für die Weiterentwicklung des eigenen Charakters. Sehr pragmatisch soll durch das Ausprobieren jede Spielmechanik des Rollenspielsystems kennengelernt werden. Unterschiedliche Hauptfähigkeiten sind steigerbar, die unterschiedliche Spielstile unterstützen. Nebenfähigkeiten, wie etwa die Handwerks- und Schmiedekunst oder Alchemie, um in Egoperspektive Tränke zu brauen und Schwerter zu schmieden komplettieren das Charaktersystem. Die dritte Säule ist der Kampf selbst und dessen zugehöriger Fähigkeitsbaum, der ebenfalls im „learning by doing“ erkundet und sukzessive erweitert wird. Je nachdem, mit welcher Waffe wie lange operiert wird, fächert sich der zugehörige Teil des Fähigkeitsbaumes aus.
Das Kampfsystem spielt sich im Vergleich zum ersten Teil spürbar besser. Es lässt erahnen, was sich die Videospielentwickler spielmechanisch vorstellen. Bisher verweilt es aber auf einem ordentlichen, nicht aber auf einem rundum gelungenen Niveau. Das hat beispielsweise auch damit zu tun, dass es ab einem gewissen Punkt in der Handlung viel zu einfach wird, jede erdenkliche Kombination an Gegnergruppen mit Leichtigkeit auszuschalten. Immergleiche Gegner werden trotz unterschiedlicher Ausrüstung schnell langweilig.

Die Spielzeit wird ab und an durch Sammel- und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen künstlich in die Länge gezogen, obwohl es das ob der zahlreichen guten (Neben)geschichten nicht notwendig hätte. Dies bedeutet (leider) auch, dass Überlebensspielmechaniken wie Essen, Schlafen, Waffen schleifen, Wunden versorgen, Ausrüstung reparieren und so weiter nach wenigen Stunden zur routinenmäßigen Menüklickereien verkommen, die dem Spiel in derartiger Form eher Authentizität raubt, als zusätzliche zu erschaffen.
Das heißt, dass Standardkost, bekannt aus vielen Rollenspielen, die Basis bildet, um darauf speziell auf das Spiel zugeschnittene Fähigkeiten anzubieten, die das gesamte Spielkonzept interessant werden lassen. Allerdings, und dies ist stark ambivalent zu bewerten, gibt es einige Meilensteine, die wenn freigeschaltet, eher sporadisch, nischig zum Einsatz kommen, wenn überhaupt: Beispielsweise – und dies zeigt sich recht schnell im Spiel – kann innerhalb der Redekunst respektive des Feilschens die Möglichkeit freigeschaltet werden, dass, obwohl man den Bogen durch eklatante Dreistigkeit mehr als überspannt hat, trotzdem vom Spiel die Chance eingeräumt bekommt, ein aller letztes Mal ein Angebot zu unterbreiten, ohne im hohen Bogen aus dem jeweiligen Laden geschmissen zu werden. Weil aber das Feilschen sehr einfach und durchschaubar designt ist, wird man diese Fähigkeit kaum bis gar nicht gebrauchen. Einerseits kann dies verärgern, weil eine Fähigkeit kostspielig freigeschaltet wurde, die im eigenen Spielstil nie zum Tragen kommt. Andererseits liegt aber genau hierin die Stärke des Spiels, weil es Beweis der hohen Varianz verschiedener Spielstile ist, die in „Kingdom Come: Deliverance 2“ möglich sind. Sofern die Nebengeschichten vom Spieler als abgearbeitet oder nicht wesentlich erachtet werden, kann dieser in der Hauptgeschichte weiterschreiten, um sich anschließend abermals sowohl in der Charakterentwicklung als Spielwelt umzusehen.

Warhorse Studios‘ Werk hat ein kleines Problem in der Charakterentwicklung, die auch in „The Witcher 3: Wild Hunt“ (CD Projekt RED, 2015) zu beobachten war: Ehe der erste große Geschichtspunkt in der Haupthandlung erreicht wird, kann es sein, dass Heinrich bereits einige Bereiche seiner Fähigkeiten maximiert hat. Das heißt, dass es entweder zu viele Tätigkeitsfelder in der Open-World gibt oder aber zu schnell zu viele Erfahrungspunkte gesammelt werden können. Die etwas zu lose Implementierung der verschiedenen, vom Spieler frei wählbaren Tätigkeiten ohne engeren Verbund zu Haupt- wie Nebenquests ist einerseits autonomiefördernd. Andererseits ermöglicht das bestehende Open-World Design über- oder untermächtige Entwicklungen Heinrichs, was wiederum zu Frust oder Langeweile beim Spieler führen kann.
Flaschenhälse und offene Weiten narrativer Art
Die Spielwelt wird ernst genommen und dynamisch ausgestaltet. Höhepunkte im Spielverlauf sind für die Einwohner dieser Welt einmalige Lebensereignisse, wie beispielsweise Hochzeiten oder der Verlust einer geliebten Person. Sie werden konsequent umgesetzt wie auch fertig erzählt. Sie bilden dadurch den gefühlten Anfang oder das Ende eines Handlungskapitels. Diese Hauptereignisse fungieren als Flaschenhälse, weil sie den Spieler in der jeweiligen Szenerie halten, bis sie gelöst beziehungsweise durchgespielt wurden. Danach öffnet das Spiel sich wieder maximal und entlässt den Spieler ins Autonome. Weil Hauptereignisse nicht zeitkritisch vorgestellt werden, gibt es hierbei keine immersionszerstörenden Logikfehler, wie etwa bei „The Witcher 3: Wild Hunt“.

Trotz allem liegt die Stärke von „Kingdom Come: Deliverance 2“ nicht im Erleben der Haupthandlung, sondern in der spielerischen Freiheit, die sich etwa so ausgestalten kann, dass man einen ganzen Nachmittag damit zubringt, seine Schmiedekünste am Controller zu verfeinern, um sich selbst das beste Schwert zu schmieden, weil man sich beispielsweise den umständlichen Weg des Geldsammelns ersparen möchte. Das widerspricht der Perspektive und Herangehensweise derjenigen, die Quest jagend versuchen, das Spiel möglichst umfänglich präsentiert zu bekommen, anstatt alles aktiv, das heißt eigenständig auszukundschaften. Es handelt sich aber hierbei um eine Spielart, die verschiedene Videospiele vor „Kingdom Come: Deliverance 2“ bereits perfektioniert haben, sodass in Relation zur momentanen Videospiellandschaft die von Warhorse Studios designte Spielautonomie als das Herausragende verbleibt.

„Kingdom Come: Deliverance 2“ lässt Geschichten entstehen, die der Spieler frei initiiert. Beispielsweise kann die freie Entscheidung gefällt werden, dass die Gräber der zu Beginn des Spiels gemeuchelten Begleiter besucht werden sollen. Das überfallene Lager wird aber von jenen Banditen besetzt, die für das Ableben der ehemaligen Kumpanen verantwortlich sind. Schleichen, der sichere Umgang mit einer Armbrust und anderes will erlernt und erstanden werden, ehe man sich auf den Weg begeben kann. Es ergeben sich daher automatisch Zwischenziele, die gesteckt werden, um das Ziel des Besuchs der Gräber zu erreichen. Schlussendlich inmitten der niedergestreckten Verbrecher die drei gesuchten Kreuze tatsächlich zu sehen, lässt eine selbst im Kopf gesetzte Nebenquest beenden. Zwar erscheint auf dem Bildschirm keine Bestätigung, dass man etwas vollbracht hat. Das Spiel ließ aber zu, dass eine Geschichte erlebt werden kann, die man sich selbst vor dem Bildschirm sitzend setzte. Da, wo das Spiel versucht einen weiterzutreiben, sind zum Teil die eigentlichen Höhepunkte, weil sie sich nicht sofort als vorgefertigte Ereignisse entlarven, sondern den Anschein wahren, dass der Spieler selbst etwas ausgelöst hat, was aus der Logik der Spielwelt heraus berechnet wurde.

Der Sog, den die Hauptgeschichte entfachen wird, wird erst circa zu Mitte des Spielfortschritts spürbar. Dass die qualitativ besten Quests zum Ende des Spiels erlebt werden, spricht für die beeindruckende Arbeit des Entwicklerstudios. Momente und Wendungen sind überraschend, unterhaltsam und im positiven lobenden Sinne, vergleichbar der Charakteristik von „Rittergroschenromanen“ ungewöhnlich ausgestaltet. Kleine Schoten erlaubt sich das Entwicklerteam trotzdem: Sie schleichen sich ab und an ein, weil beispielsweise zu hölzern und zu langatmig stumpf designt Humor hervorgerufen werden soll. Aufstoßende Betrunkene zu eskortieren, schleift sich schnell ab. Wenn sich diese hölzerne Ausgestaltung zusätzlich auf die Mimik und Gestik Heinrichs in den Gesprächen überträgt, dann beschleunigt sich der Wunsch, die Quest schnellstmöglich abzuschließen. In letzter Konsequenz wird aus Immersion kurzfristig ein generisches Abarbeiten, ehe ein Eintauchen qua Autonomie wieder möglich wird. Es ist ein spielerischer Schluckauf, der ab und an eintritt und selbst mit ausgeprägtem Phantasieregister schwer auszuhalten ist. Glücklicherweise verfliegt dieser beständig wieder.
Grenzen der Komplexität als Potenzial begreifen
Das mittlerweile in einigen Foren diskutierte Experiment, in einer Stadt oder einem Dorf Geld wie Essen fallen zu lassen, um zu beobachten, wie sich die Einwohner wie Stadttauben verhaltend darum scharen, dabei aber zuerst das Geld und dann das Essen aufsammeln, spricht für eine gewisse Komplexität, die die Entwickler bedacht haben. Die Grenzen sind aber dennoch hart, denn jeder Bewohner geht seinem Interesse nach, als ob es keine andere konkurrierende Person in der gleichen Szene geben würde, die schnellstmöglich so viel Geld wie Essen versucht zu ergattern. Das heißt, dass globalere Interaktionsmuster über mehrere Personen hinweg nicht designt wurden. Hierin liegt die Komik des Spiels, die jederzeit heraufbeschworen werden kann, wenn man sie nur geschickt genug provoziert.
Vom Spieler verbrochene Gewalttaten haben ihre Auswirkungen und Konsequenzen, die beispielsweise innerhalb der betroffenen Familie erlebbar sind. Beispielsweise, wenn der Spieler auf frischer Tat ertappt wird oder aber im Nachgang, wenn das betroffene Haus nochmals aus der Nähe beobachtet wird. Aber auch hier ist die Grenze klar erkennbar, weil es keine Auswirkungen auf das Verhalten der Dorfgemeinschaft hat, selbst wenn eine ganze Dorffamilie verschwindet. Würde in diesem Beispiel etwa die Wache des Dorfes zumindest versuchen, den Täter zu finden, wäre eine Anbindung geschaffen, die die Immersion nicht gänzlich bricht.

Der Kern des Spiels bleibt trotz allem glaubwürdig: Wer Eskapismus im besten Sinne sucht, wird bei dem Spiel fündig werden. Die Anzahl an technischen Fehlern im Spiel ist klein. Die Software mag es allerdings nicht, wenn der Spieler mit Zwang versucht sich durch Architekturen durchzudrücken. Abgesehen davon steht aus technischer Sicht auch auf nicht absoluten High-End PC-Systemen dem Spielspaß nichts im Wege.
Und doch besteht Luft nach oben: Man könnte sogar postulieren, dass „Kingdom Come: Deliverance 2“ genau dann eines der besten Videospiele wäre, wenn Haupt- wie Nebenquests in Spielautonomie aufgehen würden. Das bedeutet, dass alle hinter Hauptquests zurückgehaltenen Ereignisse auf einer unsichtbaren Zeitschiene ablaufen. Das heißt, dass sie nicht darauf warten, vom Spieler durch das Annehmen der jeweiligen Quest getriggert zu werden. Sie werden mit Sicherheit stattfinden, sodass sich zwei Personen zum Schluss des Spiels im Wesentlichen die gleiche Handlung erzählen könnten. Die Perspektive würde aber massiv differieren. Da Heinrich, wie im Handlungskonzept mit Nachdruck formuliert, nicht aktiver Teil Mächtiger, sondern vergleichbar zu allen anderen gewöhnlichen Einwohnern des mittelalterlichen Böhmens Spielball ist, würde endgültig ein Werk entstehen, dass die „emerged“ Story ins Zentrum stellt und nicht als Anhängsel behandelt. Ein Austausch über das im Spiel Erlebte wäre spannend, weil die Ereignisse aus unterschiedlichen Rollen erfahrbar wären. Während der eine sich entschloss, eher ein schlichtes Leben auf dem Land zu verfolgen und die heraneilenden Heere nur im Vorbeireiten beobachtete, würde der andere, der weiter dem Rittersein nacheifert, davon berichten können, wie es war, inmitten der Schlacht zu agieren. Die Gefahr etwas zu verpassen, würde immens gesteigert werden, sogleich aber den Wiederspielwert in die Höhe schießen lassen, der im aktuellen Spielkonzept eher weniger gegeben ist.

„Kingdom Come: Deliverance 2“ ist in seinem Zusammenwirken der Spielsysteme herausragend. Es ist seit dem ersten Teil ein in sich schlüssiges, immer komplexer werdendes Videospielkonzept, das funktioniert. Weder unter- noch überfordert es. Das Potenzial liegt im beschriebenen Wachstum an Komplexität. Ein Abschluss in einer Trilogie wäre wünschenswert. Man kann bezweifeln, ob im Jahr 2025 ein weiteres Spiel erscheinen wird, dass gleichsam derart in Umfang wie Immersion überzeugen wird. Dass es sich um ein Meisterwerk handelt, wäre verfrüht. Allerdings bewegt es sich beständig und strebt gen etwas, das in der Videospielindustrie als Aushängeschild respektive Orientierungspunkt dienen kann.