Overwatch Ein Jahr Einblicke

Hannes Letsch15 Minuten Lesezeit

Übersicht
Blizzard Entertainment, 2017

Mehr als hundert Stunden flossen persönlich bereits in Blizzards First-Person Shooter, der vor einem Jahr veröffentlicht wurde, viele etablierte Titel der Szene ein- oder gar überholte und zurzeit sein Einjähriges feiert. Beide Beobachtungen, das heißt sowohl die überraschend vielen Spielstunden ohne große Shooteraffinität als auch die große Spielergemeinde, die sich bis jetzt etabliert hat, bedingen Fragen nach den möglichen Ursachen. Der Reiz an „Overwatch“, der für diesen Ansturm verantwortlich ist, kristallisierte sich zunächst nicht heraus, denn weder war Blizzards Werk der Startschuss einer neuen Videospielserie, die Blizzard-typisch spannende Geschichten versprach, noch beinhaltet es Spielmechaniken, die man als originelle Neuheiten bezeichnen kann. Neben den Anhängern beziehungsweise Fans und denjenigen, die das Spiel auf einer stark kompetitiven Ebene wahrnehmen, scheint der Faktor des Beherrschens verschiedener Charakter ein Hauptmotor zu sein, der Spielermassen mobilisiert und so das ausschließlich auf den Mehrspieler setzende Videospiel am Leben hält. Die Entwickler verstehen es, ihr Spiel so zu positionieren, dass es ein „Entweder … oder …“ ausschließt. Es ist weder ein einfach zu beherrschendes Spiel, noch beinhaltet es einen Exklusivitätsfaktor, der viele er- oder verschreckt. Nicht viele Entwickler verstehen diesen Drahtseilakt zu beherrschen. „Overwatch“ kann sehr ernsthaft betrachtet werden, denn es besitzt tiefgreifende Spielmechaniken und Konzepte. Es erlaubt dadurch Metaebenen wie etwa die der Ergründung der richtigen Strategie und zeigt jedem Neuankömmling, wie weit entfernt der nicht erreichbare, aber dennoch hoch erstrebenswerte Horizont des eigenen Könnens ist. Und trotz dieses ersten starken Anziehungspunktes namens „Wettbewerb“ dürfte das zuvor erwähnte, ausgeschlossene „Entweder … oder …“ die Stärke von „Overwatch“ sein.

Overwatch Gameplay Trailer
Blizzard Entertainment, YouTube, 2017

Sowohl Gelegenheitsspieler wie auch auf professionellem Niveau Konkurrierende können sich ohne weiteres mit „Overwatch“ beschäftigen. Das Spiel bietet für beide Interessensgruppen genug Platz, um sich auszutoben. Allerdings fordert es ein gewisses Engagement, das heißt das gelegentliche Spielen sollte halbwegs frequentiert sein, denn wer nur ab und an ohne Regel das Spiel startet, wird kontinuierlich unter die Räder geraten. Neben der urtypischen Fähigkeit des punktgenauen Zielens mit Maus oder Controller, übersetzen sich kaum erlernte Fähigkeiten aus anderen Shootern wie etwa „Call of Duty“ (zuletzt „Call of Duty: Infinite Warfare“, Infinity Ward, 2016) oder einem „Battlefield“ (zuletzt „Battlefield 1“, EA DICE, 2016). Die Tatsache, dass die Entwickler mit Soldier76 einen Charakter in „Overwatch“ implementiert haben, den viele als „Call of Duty“-Verschnitt bezeichnen, zeigt, dass das Spiel sehr vieles versucht, um sich von anderen Shooter-Konzepten abzuheben. Es ist ein sogenannter „Hero Shooter“, der es sich zur Aufgabe macht, jeden einzelnen Charakter in jeder einzelnen Fähigkeit sehr genau durch zu deklinieren. Das einzig verbindende Element ist das Verschießen von Projektilen, egal ob Laserstrahlen, Kugeln, Pfeile, Ninja Sterne, Miniaturspritzen oder Schallwellen. Damit einhergehend ist eine notwendige Bereitschaft die verschiedenen Spielkonzepte kennenzulernen, um sie zu meistern. Ein einfaches Hin- und Herwechseln zwischen den 24 Helden ist nicht sinnig.

Für jeden das Passende

Alleine das sehr distinkte Aussehen jedes einzelnen Helden lässt erahnen, dass nicht nur das optische eine gewisse Varianz bietet. Der wuchtige Roadhog, der sich in vorderster Front gegen das gegnerische Team stellen kann, die um ihn schwirrende, auf Geschwindigkeit und Agilität setzende Tracer oder stille Distanzschützin Widowmaker; Sie alle spielen eine Rolle, die für sich stehend nicht stark genug ist, um eine Spielrunde für das eigene Team alleine zu entscheiden. Der Ansatz ist willkommen, weil er vor der Haltestelle Realismus und schroff wirkenden Soldaten beziehungsweise Kämpfern abbiegt, und somit eine andere Art der Shooterwelt befeuert, die schräger und phantasievoller gestaltet werden kann. Blizzard scheint die Vorzüge frühzeitig erkannt zu haben, denn zum einen werden die charismatisch betitelten Helden anstatt dem Spiellogo als kommerzielle Aushängeschilder gezielt verwendet und zum anderen untermauert das Visuelle die tiefgreifenden Spielmechaniken, die mit der Ausdifferenzierung den verschiedenen Charakter etabliert wird.

Blizzard Entertainment, 2017

Die allererste Orientierung im Spiel liefert ein altbekanntes Klassensystem. Insgesamt vier Klassen sind verfügbar: Offensive, defensive, unterstützende Helden sowie sogenannte „Tanks“ sollen dem Neuling helfen, seine Hauptrolle im Team zu bestimmen. „Overwatch“ gelingt es nicht nur eine große Auswahl an verschiedenen Helden anzubieten, sondern es hält Spielarten hoch, die ansonsten in vielen anderen Shootern in den unzähligen „Kill-Death“ Ratio Statistiken untergehen. Nicht die offensiven oder die defensiven Charaktere sind die primär spielentscheidenden Rollen, sondern die Unterstützungscharaktere bilden die erste stützende Säule. Selbst für jene, die nicht gut darin sind, Kontrahenten zu bekämpfen und zielgenau abzuschießen bietet „Overwatch“ einen Platz.

Der Kern, das heißt das, was den Entwicklern sicherlich die meiste Zeit und Nerven raubt, sind die verschiedenen Spielweisen und deren Synergie. Es hebt das Spiel auf ein gewisses strategisches Niveau und füllt somit die Liste der Beschäftigungsmöglichkeiten beziehungsweise Übungs- und Spielzeit immer weiter. Allein die geschätzte Komplexität wird medienweit als etwas durch und durch Positives gesehen, obwohl es einen auf den ersten Blick negativ erscheinenden Aspekt gibt, denn „Overwatch“ zwingt einen förmlich dazu, eher weniger als mehr Helden tatsächlich zu spielen. Einerseits lässt sich das daran festmachen, wer welchen Helden wie viele Stunden bereits gespielt hat, anderseits zeigt sich in den Statistiken zum Spiel, dass je mehr Stunden ein Spieler in „Overwatch“ steckt, desto eher tendiert er dazu sich auf einen oder zwei Charaktere einzuschießen.

Dieser im ersten Moment negative Eindruck über den Spielkern ist allerdings immanent, denn wenn die einzelnen Charaktere sich distinkt unterscheiden, demnach somit verschiedene Spielmechaniken repräsentieren sollen, dann braucht es Zeit diese auch zu beherrschen. Der positive Aspekt überwiegt letztendlich, denn dieses Konzept garantiert gleichzeitig, dass das Spiel nicht langweilig wird, weil immer noch ein Held mehr auf einen wartet, dessen Rolle(n) und Fähigkeiten im Gefüge eines Teams es zu erlernen gilt. Diese zuvor kurz erwähnte Lernfreudigkeit fordert „Overwatch“ bedingungslos vom Spieler. Für denjenigen, der dieser Aufforderung nicht nachkommt, wird das gekaufte Produkt ein eher kurzes, langweiliges, ohne frequentiertes Spielen sogar frustrierendes Erlebnis. Blizzards Shooter erscheint auf den ersten Blick als ein einfach zu beherrschendes Spiel. Auf den zweiten Blick eröffnet sich ein großes Feld vieler spielerischer Feinheiten, die in der Summe eine Herausforderung für den Spieler formen. Das „Wie man spielt“ ist sehr einfach einzusehen, es zu beherrschen das schiere Gegenteil.

Die hauseigene Stärke Blizzards interessante Charakter aufbauen zu können, wird hier eher subtil verwendet und verharrt in der Rolle eines netten Zusatzes. Diese Art der Geschichtenerzählung in „Overwatch“ überlässt Spielern eine spürbare Identifikationsplattform, die ebenfalls eher dazu beiträgt, wenige der momentan 24 spielbaren Helden tatsächlich zu spielen. Gestik, Mimik und Erscheinungsform der verschiedenen Charaktere sind genauso unterschiedlich wie die dahinterstehenden Spielmechaniken. Sympathie für einen Charakter ist nicht leicht zu bekommen und wirkt sehr wählerisch, weshalb die obig präsentierten Daten nicht wirklich verwundern dürften.

Level und Spielmodi

Das Spiel besteht nicht nur aus Innovativem: Neben dem Zurückgreifen auf Klassen und der Tatsache, dass alle Helden auf die ein oder andere Art Projektile schießen, verlassen sich die Entwickler bei der Gestaltung der verschiedenen Level beziehungsweise Arenen auf etablierte Gestaltungsformen. Den Spielkarten bzw. „Maps“ kommt eine wichtige Rolle zu, denn in diesen entfaltet sich erst das, was zuvor für die einzelnen Charaktere gedacht und entwickelt wurde. Fragen, ob die konzipierte Synergie innerhalb eines Teams zu jeder Zeit des Gefechts, egal mit welcher Heldenkonstellation, zum Tragen kommt oder ob eine gewisse Fairness und Spannung vorherrscht, bestimmen die Level zu allererst. Die Vergangenheit lehrt sogar, dass „Maps“ nicht nur Konzepte verhindern, sie können ganze Spiele ruinieren. Beispielsweise wäre „Battlefield 1“ zu nennen, das bereits innerhalb dessen Spielergemeinde einiges an Kritik einstecken musste, weil die verschiedenen Schlachtfelder zu einseitig, nicht den jeweiligen Spielmodi angemessen konzipiert wurden. Blizzards Heldenshooter lässt auch hier auf spielmechanischer wie optischer Ebene wenig Kritik zu. Die Karten funktionieren, weil jeder Charakter in jedem Level in jedem Spielmodus eine Rolle ausfüllt, die nicht nur einfach existiert und sinnig erscheint, sondern tatsächlich gewichtig ist. Die Idee einer idealisierten, futuristischen, farbenfrohen Erde, die die Hintergrundgeschichte zu „Overwatch“ liefert, ist nichts wirklich Neues, allerdings erlaubt sie interessante, optisch spürbar verschiedene Leveltypen: Tokyo zur Zeit der berühmten Kirschblüte, das futuristische London bei Nacht, die Filmstudios in Hollywood, ein Kloster im tibetanischen Hochgebirge, eine afrikanische Metropole … das Level-Design überzeugt auf ganzer Linie.

So gut die Maps auch sind, die Anzahl und die Varianz ist auch ein Jahr später immer noch zu kritisieren. Es dauert nicht lange, bis man jede Karte in und auswendig kennt. Das Gleiche gilt automatisch auch für die Anzahl und die Ausgefallenheit der verfügbaren Spielmodi. „King of the Hill“, Eskortmissionen, „Capture the Flag“ Aufgaben und ein paar Arcade-Spaßmodi sind alles, was „Overwatch“ bisher anbietet. Sicherlich baut das Spiel ausschließlich darauf, im Team gemeinsam ein Ziel zu erreichen, weshalb „Deathmatch“-konzepte kategorisch ausgeschlossen werden. Nichtsdestotrotz ist es etwas verwunderlich, dass neben den herausragend entwickelten Helden und Spielmechaniken nur mittelmäßige, gar nullachtfünfzehn ähnliche Spielmodi bisher integriert wurden. Die riesige Spielgemeinschaft kann nebenbei bemerkt nicht selbst aktiv werden, da die große Chance einen Karteneditor zuliefern ausgelassen wurde.

Langlebigkeit des Spiels

Der beispielhafte Inhalt einer Loot-Box
Blizzard Entertainment, 2017

„DLCs“, „Season Passes“, „Pay to Win“ und „Pay to Skip“ Konzepte sowie Mikrotransaktionen sind Teil des festen Videospielmarktes, die jeweils ob ihrer rein wirtschaftlichen Ausrichtung mehr oder weniger Akzeptanz zu Teil werden sollte. Viele Publisher sehen sich, so zumindest die teils offizielle teils spekulative Begründung, dazu gezwungen, solchen Praktiken nachzukommen, um weiterhin rentabel operieren zu können. Auch „Overwatch“ versucht sich an Mikrotransaktionen, erntete aber wegen der komplett negativen Konnotation sofortige Kritik. Ein Jahr später ist festzuhalten, dass es zumindest einer derjenigen Monetarisierungskonzepte ist, das am ehesten den Stempel „Transparenz und Fairness“ zugesprochen werden könnte. Ein einmaliger Kauf garantiert(e) von Anfang an, den vollen Umfang allen spielbaren Inhalts. Kaufbar sind sogenannte „Loot-Boxen“, die kosmetisch, ästhetische Inhalte bieten, die keinerlei Einfluss auf das eigentliche Spiel haben. Egal ob Neuling oder Veteran, jeder hat die gleichen Helden in gleicher Stärke zur Verfügung. Der Unterschied im Erfolg entsteht einzig durch Erfahrung und Können. Prinzipiell ist es sogar möglich alle kosmetischen Inhalte, Emotes und so weiter durch langweiliges Spielen freizuschalten - allerdings eben nur prinzipiell. Der Faktor Zufall bläst das Vorhaben zu einer wahren Lebensaufgabe auf, die viele abschrecken wird.

Nur ein Synergiebeispiel von vielen: Mercy, die nur selten in der Luft ist, kann in Verbindung mit Pharah sehr lange in der Luft verweilen.
Blizzard Entertainment, 2017

„Overwatch“ ist in diesem Bereich ein zweischneidiges Schwert, denn Fortschritt entsteht im Spiel allein durch den Zuwachs des eigenen Könnens. Die gelegentlichen Levelaufstiege und die damit garantierten „Loot-Boxen“ sind keine wirkliche Belohnung, weil sie (a) zu selten verfügbar sind und (b) zufallsbasierend Inhalte liefern, die man selbst gar nicht für erstrebenswert hält, weil sie entweder für einen Helden gedacht sind, den man selbst nicht spielt oder aber nicht dem eigenen Geschmack entsprechen. Weil aber kosmetische Inhalte nicht unwesentlich sind und subjektiv empfundene Einzigartigkeit ein starkes Kaufargument sein kann, ist die Gefahr, Unsummen für derartige digitale Inhalte auszugeben, nicht zu unterschätzen. Allerdings ist alles, was spielerische Varianz bietet, von Anfang an im Spiel freigeschaltet. Training und Perfektion sind die einzig relevanten Motivationsfaktoren, die einen zum Spielen(!) animieren. Blizzards Werk kann nur genossen werden, wenn man es wegen dem Spielmechaniken spielt. „Overwatch“ ist für all jene, die der Perfektion und dem kontinuierlichen Lernen etwas abgewinnen. Das wiederum kann als ein Handicap gesehen werden, vor allem heutzutage, weil die Mehrzahl der Videospiele eher dazu tendiert, den Spieler durch bevorstehende, herausragende Belohnung zu motivieren, doch noch ein paar Spielstunde zu investieren.

Leuchtturm Overwatch

„Overwatch“ versucht sich als reiner Mehrspieler an einem Spielkonzept, was bereits viele Projekte schier verzweifeln lies: Teamwork. Anstatt Massen an Spielern in Alibiteams auf großen Schlachtkarten gegeneinander antreten zu lassen und nur denjenigen zu belohnen, der die meisten Gegner abgeschossen hat, setzen die Entwickler von Blizzard auf eine andere Belohnungstaktik: Neben den zusätzlichen Boni, die man im Zusammenspiel mit Freunden erhält, zeichnet es nicht diejenigen Spieler aus, die global am offensivsten agieren, das heißt etwa die meisten Abschüsse in einer Runde unter allen Spielern erspielen, sondern es belohnt jene, die in ihrem Team eine gewisse Rolle am besten ausfüllen. Ein Spieler, der in seinem Team den besten Job macht, bekommt zusätzliche Erfahrungspunkte, nicht derjenige, der als einsamer Krieger alles niedermäht. Defensiv wie offensiv Spielende können somit gleich hoch in den Listen der Besten rangieren. So klein dieser Unterschied auch sein mag, er greift das individuelle, durchaus egoistische Ziel der Dominierende zu sein auf und setzt diese Motivation so ein, dass nur durch das Kooperieren und durch die Rücksichtnahme auf das Team ein Aufstieg im globalen Ranking möglich wird. Ohne Teamplay, kein Fortschritt, egal ob intra- oder interindividuell (z.B. Rundengewinne und Auszeichnungen). Der Weg zum Erfolg geht tatsächlich ausschließlich und nicht nur theoretisch über das eigene Team.

„Overwatch“ bedeutet Lernen und Ausdauer. Ebenbürtige Teams, die im mittelmäßigen Matchmaking glücklicherweise eher die Regel sind, lassen immer wieder enge, packende Wettkämpfe entstehen. Sobald eine Spielrunde auf „Messers Schneide“ steht ist, „Overwatch“ ein fantastisches Spiel. Es spricht für die Finesse Blizzards, ein wahres Spiel zu generieren, das man nicht nur konsumiert ob seines Inhaltes, sondern auch wegen des Spielspaßes immer wieder startet. Als ein Leuchtturm beschreibt es ein Spielkonzept, das Langlebigkeit, Ausgewogenheit und Motivation verkörpert – zwar nicht für alle, aber, so die einschlägigen Berichte der Medienwelt, für Millionen.

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