Videospiele sind eine junge Kunstform. Als solche ist ein zugehöriges, fachspezifisches Vokabular erst im Entstehen. Begriffe bedeuten allerdings nicht Abkürzungen oder Modewörter wie „Noob“ oder „Mats“, sondern stehen für Modelle und Verständnisräume, die ein gewisses „Know-How“ in der Videospielentwicklung zusammenfassen. „Narrative Design“ wäre ein Beispiel, „Progression System“ ein anderes. Das Wort „Power Creep“ rangiert momentan zwischen Mode und genuinem Videospieldesign, weil es momentan (noch) Teil hitziger Diskussionen um gutes „Gameplay“ in vielen (MMO)RPGs oder „Hack and Slay“ ist. Der Begriff ist allerdings als wesentlicher Bestandteil guten Videospieldesigns zu verstehen, weil er – wenn falsch entwickelt – ein Spiel gänzlich zu Fall bringen kann; und dies schneller, als manche Entwickler erahnen.
Definition des Begriffs
„Power Creep“ beschreibt die Situation, in der Aktualisierungen eines Spiels mächtigere Einheiten oder Fähigkeiten einführen, sodass bereits etablierte Gegenstände untermächtig werden (können). Nicht der Fortschritt des Charakters selbst, sondern die Stärke der eigenen Spielfigur wird damit adressiert. Wie diese entsteht, ist nicht Bestandteil des Begriffs. Er fokussiert klar das Spieldesign selbst, das in diesem Zusammenhang die Aufgabe besitzt, das Bedürfnis nach Macht und Stärke, Langzeitspielspaß und Fairness unter einen Hut zu bekommen. Kurzum: „Power Creep“ ist das kleine Detail, das Design, das bestimmt, um wieviel der eigene Charakter, das eigene Auto, die eigene Fraktion o.Ä. (≙ Avatar) stärker wird. Es ist die Frage, wie man stärker wird und nicht wann dies geschieht. Auf den ersten Blick ist es der langweiligere Teil eines Progressionssystems, weil es das statische System ist, das bestimmt, wie der Entwicklungsprozess des eigenen Avatars im Spiel aussieht.
Welche Herausforderungen sind zu denken?
Der momentane „state of the art” ist, dass pro Aufgabe, die im jeweiligen Spiel gestellt wird, eine gewisse Menge an Ressourcen (vgl. z.B. Erfahrungspunkte) erworben werden, die vom Spieler eingesetzt beziehungsweise ausgegeben werden können. Der Zugewinn an Stärke oder Macht kann sich wiederum verschieden manifestieren. Beispielsweise kann in einem „Hack and Slay“ Videospiel wie „Diablo 3“ (Blizzard, 2012), das in diesem Artikel noch öfters zur Sprache kommen wird, der Spieler mächtiger werden, indem er mehr Gegner simultan in gleicher Zeit bezwingen kann. Alternativ ist der Avatar in der Lage, einzelne Gegner schneller zu besiegen. Zwischen diesen zwei Polen sind verschiedene Mischungen selbstverständlich denkbar. Der iterative Prozess, die eine oder andere Ausprägung immer besser zu beherrschen, findet über das ganze Spiel hinweg statt. Dieses kann wiederum in zwei wesentliche Bereiche eingeteilt werden:
- Das Leveln: Zu Beginn eines Spiels ist der eigene Charakter auf Level 1 und damit recht schwach. Ziel ist es, so schnell wie möglich das maximale Level, die maximale Entwicklungsstufe zu erreichen.
- Das „Endgame“: Durch saisonale, kurzzeitige Events, besondere oder persistente Dungeons oder optional auswählbare Schwierigkeitserhöhungen werden nach erfolgreichem Leveln weitere Hürden präsentiert, die es gilt zu überwinden.
Während der erste Punkt eindeutig ist, ist das Problem des „Endgame“, dass dieses den Spieler aus einem einspurigen Aufgabentunnel entlässt. Der Spieler bestimmt, was nach erfolgreichem Leveln die neue Herausforderung sein soll. Das „Endgame“ ist somit subjektiv. Die Beendigung einer von den Entwicklern vorgegebenen Geschichte (embeded story) kann das Ende des Spielens bedeuten und ist dementsprechend für den Spielenden das „Endgame“. Diejenigen, die darüber hinausgehen, das heißt viel Zeit in das Spiel investieren, weil sie dem Optimum entgegenstreben, ist für andere das eigentliche „Endgame“. Wie soll „Power Creep“ dieses Füllhorn an Möglichkeiten nach erfolgreichem Leveln händeln? Wie sollte ein gut austarierter „Power Creep“ designt sein?
Grundsätzlich setzt das Modell voraus, dass auf motivationaler Ebene das jeweilige Spiel gut funktioniert. Mit dedizierten Inhalten lockt dies Spieler massig Zeit in das Spiel zu investieren, weil die erwartbaren Belohnungen nur diejenigen zu sehen bekommen, die derart lange das Spiel konsumieren. Exklusivität wird daher gebraucht. Ein guter „Power Creep“ nimmt das motivationale Potenzial auf, indem er diejenigen Spieler mächtiger werden lässt, die mehr Zeit investieren. Und obwohl andere weniger Anstrengungen unternehmen, erlaubt es trotzdem, dass andere, schwächere Mitspieler mithalten respektive mit Starken zusammenspielen können. „Diablo 3“ ist in diesem Zusammenhang ein schlechtes Beispiel, weil diejenigen, die im Spiel „hinten dran“ sind, keine Chance haben mit Stärkeren mitzuhalten. Weil sich die Stärke der Gegnerhorden am Level der Spieler orientiert, sind einzelne Schläge ausreichend, sodass der schwächere Mitstreiter sofort ins Gras beißt. Somit müssen diese erstmal durch Anstrengungen der Stärkeren auf ein ebenbürtiges Stärkeniveau gehoben werden.
Besser wäre, wenn beide tatsächlich gemeinsam spielen könnten. Während der Stärkere mehr Schaden austeilt und resistenter den anstürmenden Monsterhorden widersteht, braucht der Schwächere womöglich etwas länger, muss mehr Vorsicht aufbringen, kann aber dennoch gut durchhalten. Das oben vorgestellte Modell versucht den Power Creep auf Spielzeit, motivationale Gegebenheiten, Interessenslagen der übrig geblieben Spieler und die Psychologie des Spielspaß abzustimmen. Während zu Beginn mit einem exponentiellen Modell gearbeitet wird, um recht schnell signifikant spürbare Veränderungen zu etablieren, wird im „Endgame“ ein annährend logarithmischer Verlauf angesetzt. Das erlaubt sowohl ein System mit beschränktem Maximallevel wie ein offenes Levelsystem. Der logarithmische Endverlauf stellt sicher, dass eine Verbesserung stetig existent ist, ohne in die Falle einer exponentiellen Beschleunigung zu geraten, im Gegenteil. Würde dies passieren, so würde ein noch so großes Entwicklerteam mit der Erstellung neuer Inhalte nicht hinterherkommen, um persistenten und ausbalancierten Machtzuwachs sicherzustellen.
Konkret kann dieses Modell durch das Prinzip der Unvergleichbarkeit ins Spiel implementiert werden. Dieses Prinzip fordert Spielelemente, die der Spieler nicht numerisch (quantitativ), sondern maximal qualitativ unterscheiden kann. Die Fähigkeit sich beispielsweise schnell zu bewegen oder mächtige, physische Schläge auszuteilen kann nicht numerisch miteinander verglichen werden. Die Frage, welche der beiden Fähigkeiten besser ist, repräsentiert endlose Diskussionen, die nie einer definitiven Beantwortung näherkommen, weil die Passung immer vom Spielstil der jeweiligen Person und von der Herausforderung abhängt, die man im Spiel zu bewältigen hat.
Relevanz des Power Creep
Wenn Videospiele durch Onlinefunktionen, beständige Spielwelten oder konstantes Updaten gen Langlebigkeit entwickelt werden, wird das Thema „Power Creep“ zur obersten Priorität. Erst recht, wenn die Wirtschaftspolitik des jeweiligen Herstellers auf große Konsumentenzahlen und Mehrspieler setzt. Aus Designentscheidungen können im ungünstigen Fall eine Diskussion um Fairness oder gar Betrug entstehen, wenn der „Power Creep“ nicht ausgewogen ausgestaltet ist.
Diese Ausgewogenheit zu finden, ist alles andere als einfach. Als sehr grobe Veranschaulichung soll das nachstehende Modell dienen, das nur zwei von vielen wesentlichen Faktoren in einem gesetzten Szenario respektiert. Zwei Personen, die zeitlich versetzt beginnen ein „Hack and Slay“ zu spielen, würden gerne möglichst zusammenspielen. Zu große Levelunterschiede können somit ein Problem sein. Gleichzeitig soll das Videospiel langfristig wirtschaftlich sein und es soll Spaß machen, weil man gerne spürbare Machtzugewinne erfahren möchte.
„World of Warcraft“ (Blizzard, 2004) ist ein prominentes Beispiel, denn viele Gegenstände, die zu Beginn des Spiels attraktiv für Level 60 Spieler waren, sind es heutzutage nicht wert angesehen zu werden. Viele der Dungeons auf dem Weg zum Level 60 sind nicht mehr die Aktivitäten schlechthin, die ins Auge gefasst werden müssen, um stärker zu werden. Solche Level wurden schlichtweg von anderen Dungeons o.Ä. durch Erweiterungen und Patches abgelöst, weil diese schnelleres Aufsteigen und bessere Belohnungen versprachen. Man könnte in diesem Zusammenhang durchaus argumentieren, dass dies natürlicher Bestandteil von Videospieldesign ist, allerdings sollte man als Designer dieses Argument in zwei wesentliche Faktoren unterteilen:
- Je länger sich Designer mit ihrem eigenen Werk auseinandersetzen, desto besser verstehen sie dieses. Sie beherrschen ihr Handwerk über die Zeit besser und können somit passendere Level und Gegenstände dem Spiel hinzufügen. Es ist also durchaus „normal“, dass gewisse Inhalte eines Spiels über die Zeit hinweg obsolet werden.
- Wenn man sich mit Videospielprojekten auseinandersetzt, die über einen längeren Zeitraum fortbestehen sollen, muss die Herausforderung des „Power Creep“ tiefgehend durchdacht werden. Sind Spielmechaniken und Konzepte, die den „Power Creep“ wesentlich beeinflussen, gesetzt, ist die Möglichkeit der Veränderung stark eingeschränkt. Bricht man mit dem Konzept an einem gewissen Punkt, ist das Spiel nachhaltig im Generieren von Spielspaß beschädigt. Insofern ist es nicht gerade förderlich, dass Videospieldesigner zumeist nicht ausreichend Zeit bekommen, um durch Iterationen ein Grundkonzept eines Spiels zu erstellen, das einen soliden „Power Creep“ sicherstellt. Der verführerische Ausweg, Kritiken einfach nachzugeben, indem man bessere Belohnungen und schnelleres Leveln wunschgerecht implementiert, kann langfristig nur schief gehen. Kurz- bis mittelfristig wird das Bedürfnis des Spielers sich mächtiger zu fühlen zwar befriedigt, der bestehende Inhalt wird aber drastisch in seiner Halbwertzeit reduziert. Solch eine Entscheidung ist eine designte Zeitbombe, weil sie den Weg des exponentiellen Wachstums beschreitet. Immer größer, besser und schneller führt zum Tod jedes Progressionssystems in Videospielen. Die Liste gescheiterter Spiele, die auf Langfristigkeit angelegt waren und den beschriebenen Weg einschlugen, ist lang.
„Power Creep“ fordert, dass der Spieler sich mit der erworbenen Ausrüstung o.Ä. auseinandersetzt. Egal, ob es sich um Kartendecks, Rüstung und Waffen, Fahrzeuge oder Kleidungsstücke handelt – wenn sich der Spieler mit dem Erspielten identifiziert, ist weitere Spielzeit höchst wahrscheinlich. Durch einen falschen „Power Creep“ kann das, was erspielt wurde, zum digitalen Einweg-Wegwerfgegenstand verkommen, der maximal für ein paar Wochen oder Monate Relevanz besitzt. Wer nicht ständig am Ball bleibt und versucht immer die neu implementierten Gegenstände zu erspielen, wird frustriert feststellen, dass all die Spielstunden, die er oder sie bisher ins Spiel investiert hat, umsonst waren. Das heißt, wer nicht bereit ist, sehr viel Zeit in das Spiel dauerhaft zu stecken, ist raus. Der jeweilige Mehrspieler wird ungenießbar, weil man stets und ständig einer Entwicklung hinterherrennt, die man aufgrund von beschränkter Freizeit o.Ä. nicht einholen kann. Das, für was das Spiel konzipiert war – nämlich eine Freizeitaktivität – ist nicht mehr. Die Zahl der Spielenden schrumpft massiv, was wiederum einem Mehrspieler das Genick bricht. Die fehlende Wirtschaftlichkeit und anderes schließen an. Früher oder später werden die Server abgeschaltet. Und das alles, weil „nur“ der „Power Creep“ nicht ausbalanciert war.