Peacock Theater Los Angeles am 13. Dezember 2024: Während der Game Awards beginnt der sich gerne in Marketingworthülsen verstolpernde Geoff Keighley davon zu erzählen, dass es nicht nur interessant sein könnte zu wissen, auf welche Videospiele man sich im Jahr 2025 freuen sollte, sondern sich auch ein Blick weiter in die Zukunft lohnen würde. Die Augen im Publikum wie auch derjenigen, die die Veranstaltung live im Stream verfolgen, werden größer. Die Ohren werden gespitzt. Die volle Aufmerksamkeit ist Keighley zumindest für die nächsten zehn bis zwanzig Sekunden gewiss. „Der Blick auf das Unerwartete“ wird angepriesen während in den viel zu schnell ablaufenden Chattextboxen der Übertragung bereits mehrfach „The Witcher IV“ oder ähnliches zu lesen ist. Der Trailer beginnt und für sechs Minuten herrscht Ruhe. Im Publikum sitzen gespannt einige aus dem Entwicklerteam von CD Projekt RED und warten nur darauf, bis die Katze vollends aus dem Sack ist, um kurz aufzustehen und ihre Jacken auf links zu drehen.
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Ich bin damit einverstanden, dass Inhalte von X angezeigt werden. Weitere Informationen, inwiefern personenbezogene Daten an X bei Anzeige übermittelt werden, können in den Datenschutzerklärungen entnommen werden.Obwohl Doug Cockle, die englische Stimme von Geralt von Riva, bereits im August ein kleiner Fauxpas unterlief, der die besagte Katze eigentlich bereits aus dem Sack ließ, war trotzdem zu beobachten, wie sehr sich die Entwickler darauf freuten, für ihr kommendes Werk einstehen zu dürfen. Die Lippen mussten nicht mehr aufeinandergepresst stillschweigen, sondern durften etwas ungezügelter verwendet werden.
Die Game Awards 2024 gingen zu Ende, „The Witcher IV“ schoss wie selbstverständlich über die Nachrichtenticker und durch die bekannten sozialen Netzwerke. Dass Geralt von Riva nicht mehr der Hauptprotagonist sein wird, war mindestens seit 2013 gesetzt. Damals stellten die polnischen Entwickler klar, dass sie die Trilogie des Hexers mit „The Witcher 3: Wild Hunt“ (2015) abschließen würden. Es schloss aber nicht aus, dass Geralt etwa in der Rolle eines Mentors in weiteren Spielen auftreten könnte.
Der Kampf um ein Häufchen Nichts
Trotzdem war das Echo auf den neuesten Trailer geteilt. Viele Zuschauende hatten Spaß an der sechsminütigen Kurzgeschichte, andere waren wiederum enttäuscht darüber, dass nicht Geralt von Riva, sondern dessen Ziehtochter Ciri offensichtlich zu spielen sein wird. Einige versuchten auf die kulturelle Ebene abzuheben, indem sie unterstellten, dass eine Frau in heutiger Zeit wie selbstverständlich die Hauptrolle innehaben müsse. Die Logik der Spielwelt und bisher festgesetzte Geschichte sei absichtlich missachtet worden.
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Ich bin damit einverstanden, dass Inhalte von X angezeigt werden. Weitere Informationen, inwiefern personenbezogene Daten an X bei Anzeige übermittelt werden, können in den Datenschutzerklärungen entnommen werden.Kurzum: Der Trailer wurde sofort von unterschiedlichen Personen auf die Schlachtbank medialer Aufmerksamkeitshascherei und Meinungsmache gezerrt, um abzuschneiden und einzunehmen, was dem eigenen affektiven Standpunkt dienlich sein könnte.
Anstatt sich etwa daran zu erinnern, wie der erste Trailer zu „The Witcher 3: Wild Hunt“ ausgestaltet und gedacht war, das heißt welche Rolle dieser in Rückschau einnahm, wird vieles unnötig emotional aufgebläht. Der vor elf Jahren im Trailer abgebildete Geralt sieht sich in seinen Gesichtszügen nicht gänzlich der endgültigen Spielfigur ähnlich. Zusammenhänge bestehen, allerdings hauptsächlich auf einer grundsätzlicheren Ebene, um die Chance zu eröffnen, eine Idee vom Spiel zu erhalten. Dasselbe gilt auch für den neuesten Trailer für „The Witcher IV“. Aus einigen Kamerawinkeln sieht die älter gewordene Cirilla Fiona Elen Riannon womöglich etwas befremdlich aus. Nichtsdestotrotz werden Parallelen zu bekannten Gestaltungselementen der Witcher Videospiele bekräftigt, weil auch Ciri mit den Konsequenzen ihres Handelns umgehen muss. Eine moralisch zu unterstützende Handlung wird in der Kurzgeschichte multiperspektivisch ausgestaltet: Die narrative Jonglage mit Absichten, Wahrnehmungen und Reaktionen ist auch in diesem Trailer gegeben. Dies aber als Grundlage für eine fundamentale Skepsis zu setzen, ist zerstörerisch für das eigene Interesse am Spiel wie auch für diejenigen, die das Spiel erst noch zu entwickeln haben.
Missfallen an der Ästhetik eines Videospiels muss nicht (öffentlich) gerechtfertigt werden. Aus welchen Beweggründen auch immer ein Unterhaltungsmedium gemocht oder nicht gemocht wird, es gibt nichts am eigenen Geschmack oder der eigenen Meinung auszusetzen. Sie ist genauso gültig wie die aller anderen. Das bedeutet aber auch, dass sie nicht wertiger ist.
Wer sich trotzdem lautstark beschwert, in der Hoffnung ein Umdenken der Entwickler zu erzwingen, setzt sich damit den ersten unnötigen Stolperstein gegen Spielspaß und eine ungefilterte Sicht der Dinge. Denn weder wurden Spielszenen gezeigt noch tiefgründige Sinnzusammenhänge vorgestellt. Die sich selbst gegebene Regel, CD Projekt RED nach „Cyberpunk 2077“ eine faire Chance zur Rehabilitierung des Rufs zu geben, wird sukzessive vergessen oder verdrängt. Aus freiem Gestaltungsraum für die Entwickler, um sich beweisen zu können, wird nicht nur Skepsis, sondern indirekte Vorverurteilung. Die daraus resultierende bedrohliche Kulisse hat wiederum Einfluss auf das Entwicklerstudio und dessen Personal, das bereits zum jetzigen Zeitpunkt reaktiv Wogen zu glätten hat, anstatt weiter für sich sprechend zu agieren.
Der Erwartungsdruck ist ohnehin groß, weil einerseits „The Witcher 3: Wild Hunt“ die Messlatte sehr hoch setzte. Andererseits haben die vielen Fehler im Zuge der Veröffentlichung von „Cyberpunk 2077“ das Studio mehrere Entwicklungsjahre gekostet, um diese auszubügeln. Vertrauen kann aber nur dann zurückgewonnen werden, wenn eine echte Chance dafür eingeräumt wird. Es ist das emotionale Risiko, das einzugehen ist, wenn man auf Besserung abzielen möchte.
Ein paar Aspekte für offene Gedankenspiele
„The Witcher IV“ setzt Ciri ins Zentrum, die, wie im Trailer erkennbar, zu einer Hexerin wurde. Der intern verwendete Codename zum Spiel, „Project Polaris“, kann als eine Referenz auf Ciris Fähigkeit zwischen Raum und Zeit zu reisen gesehen werden. Die Nutzung von römischen Ziffern im Spieltitel sind wahrscheinlich mit Bedacht gewählt, um abermalig zu signalisieren, dass es sich um keine direkte Fortsetzung von „The Witcher 3: Wild Hunt“ handeln kann.
Die gezeigten Szenen bedeuten, dass Ciri auf irgendeine Art und Weise die Kräuterprobe bestanden respektive überlebt hat. Bisher war die Überlieferung klar: Nur Jungen in jungen Jahren können die Kräuterprobe bestehen. Wird ein Körper nicht in (sehr) jungen Jahren an die verschiedenen giftigen Wirkungen der eingesetzten Kräuter zu Mutation gewöhnt, wird die jeweilige Person nicht überleben. Welche Rolle ihre Abstammung vom Älteren-Blut (Hen Ichaer) dabei spielt, ist ebenfalls ungeklärt. Bekannt ist nur, dass die Kräuterprobe öfters zum Tod führt und für weibliche Körper eigentlich nie auszuhalten ist.
Weil es aber anscheinend eher weniger willkommen ist, solche Gedankenspiele offen zu lassen und diese als Interessierte auszuhalten, sieht sich CD Projekt RED dazu veranlasst, ins Detail gehen zu müssen:
That was a huge thing for us, to make that call [to mutate Ciri], not only for her, but for the game. But then it’s so important and still leaves so much space for imagination, like when it happened, how it happened. It’s just a tease showing something, but you don’t know where you will experience it and how in the game. I think it’s a huge change and I hope people did not expect it.
– Małgorzata Mitręga, Executive Producer, IGN
Es ist bemerkenswert, wie Cirilla sich verändert hat. Mehrere Jahre sind seit den Ereignissen von „The Witcher 3: Wild Hunt“ vergangen. Die Geschichte, wie Ciri es geschafft hat, entgegen des bisher bekannten Wissens zu einer Hexerin zu mutieren, wird womöglich im Spiel erlebbar sein. Das Szenario ist aber sogleich ein erhebliches Risiko, weil es für Interessierte verwirrend ist, wenn gleichzeitig immer wieder damit gespielt wurde, dass abgesehen der Wolfs-, Katzen-, Greifen,- Bären-, Vipern-, Mantikor- und Kranenschule keine weiteren Hexerschulen existieren würden. Mit der Zerstörung der notwendigen Instrumente in Khaer Morhen und Vesemirs Tod sei zusätzlich die Möglichkeit verschwunden, jemals Menschen in Hexer zu verwandeln. In jedem Fall entwertet das bisher Gesetzte die erlebten Ereignisse in den vorherigen Spielen, weil deren Bedeutsamkeit aus ihrer Irreversibilität erwuchsen. Es schädigt zu einem gewissen Grad die Gewichtigkeit vorheriger Geschichten.
When it comes to the happiness, the moments she (Ciri) was really happy about her life; it was in Khaer Morhen among the other witchers. For good and for bad she wants to become a witcher. In the word “become” there is a journey. And I want people to experience the journey.
– Sebastian Kalemba, Game Director
Der Trailer zeigt, das Ciri bereits eine professionelle Monsterjägerin ist. Sie weiß die junge Frau namens Mioni, die eigentlich geopfert werden soll, als singenden Köder einzusetzen, um überhaupt Zugriff auf das Monster zu erhalten. Gekonnt und überlegt zieht sie das Böse an, setzt Hexertränke ein und arbeitet mit den gleichen Waffen wie Ziehvater Geralt von Riva, um das Monster Bauk zu bezwingen. Das heißt, dass Anbindungen an vorherige Videospiele ebenfalls vorhanden sind: Das von Geralt geschenkte Schwert und die in Khaer Morhen gelernten Kampfbewegungen sind im Trailer genauso zu sehen wie das Medaillon eines Luchses um ihren Hals, das bisher nur auf einem einzigen Screenshot präsentiert wurde. Ihre Verbindung zu diesem unbekannten Hexerhaus dürfte eine große Rolle in der Handlung spielen.
Was Ciri von anderen Charakteren zusätzlich abhebt, ist die Fähigkeit, die Energie aus ihrer Umwelt abzuziehen, um sie in mächtige Zauber zu katalysieren. Eigentlich ist dies nur Magierinnen der Welt vorbehalten. Yennefer wie Triss scheiterten (bisher) daran, Ciri diese Fähigkeit beizubringen. Die Abweichungen CD Projekt REDs zu Andrzej Sapkowskis fünf Büchern der Jahre 1994 bis 2009 werden daher immer offenkundiger. Diese Entwicklung ist aber kein Novum, denn bereits in „The Witcher 3: Wild Hunt“ ging das Entwicklerstudio seine eigenen Wege und baute die Welt Sapkowskis um.
Wie sehr sich Ciri politisch engagieren wird, bleibt abzuwarten. Entgegen ihrem Ziehvater dürfte aber bereits jetzt klar sein, dass sie weniger pragmatisch agiert und nicht viel von Neutralität hält. Und auch das ist ein Risiko, weil es fundamental der Mentalität und Lebensweise von Hexern widerspricht. Die Gefahr Widersprüche im geschichtlichen Gesamtkonstrukt ungewollt einzuweben, erhöht sich dementsprechend abermals. Auch die Frage, inwiefern ein übermächtiger Charakter in der Witcher-Welt zu spielen Spaß macht, stellt sich. Die Offenheit gegenüber der Idee sollte aber erhalten werden. Zum einen bewies sich CD Projekt RED bisher konstant darin, ausgewogene und komplexe, das heißt immersive Geschichtsarchitekturen aufzubauen. Zum anderen könnte es sich lohnen zu warten, wenn Game Director Sebastian Kalemba skizziert:
I remember we had discussions nine years ago; we were talking about who’s next? The very, very instant answer was Ciri. There are many reasons behind that. […] She really deserves a stage and we want players to really experience her story because she has so much to tell, so much to prove.
– Sebastian Kalemba, Game Director, GamesRadar+