Anträge zu schreiben ist die Hölle. Umständlich, langwierig und meistens nicht wirklich auf das eigene Anliegen passend. Selbst wenn man mit staatlichen Institutionen eher weniger zu tun hat, so hört man doch in seinem Umfeld immer wieder, wie wenig zielführend und meist sogar hindernd solche staatlichen Abläufe zur Unterstützung von Vorhaben sein können. Man verstehe es bitte nicht falsch: Nur weil der Autor durchweg schlechte Erfahrungen mit öffentlichen Förderern auf Bundesebene gemacht hat, heißt das nicht, dass Förderung per se schlecht sei. Couragiert sollte man aber in jedem Fall sein, wenn man das eigene Vorhaben manchmal seltsam tickender Antrags- und Bearbeitungsabläufe überlässt. Abhängig ist man in jedem Fall. Und ob das beantragte Geld reicht oder man womöglich nochmals zähe und zeitintensive Förderungsprogramme bespielen muss, weiß man bei Planung und Durchführung des eigenen Vorhabens selten. Dieses Zittern auszuhalten ist eine Qual und kann auch hemmen.
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Die Entwickler von Paintbucket Games sind diesen unsicheren Weg gegangen und legen mit ihrem geförderten Projekt namens „The Darkest Files“ noch eine Schippe mehr „Risiko“ obendrauf. Eher unscheinbar in Halle 10 der Gamescom 2022, in der sogenannten Indie Arena, war ein eher düster ausgestalteter, kleiner Stand zu erkennen, der ein Spiel auf ein paar Laptops und einem großen Bildschirm präsentierte. Allein optisch jonglierten die Gestalter des Standes mit gezeichneten Illustrationen, die politisch gesellschaftlich immer noch ordentlich Sprengstoff beinhalten: der Nationalsozialismus. Je mehr der Besucher des Standes zum Spiel und dem beschwerlichen Weg von ungefähr einem Dutzend Entwickler lernte, desto eher viel einem das Wort „verrückt“ ein, was die am Stand tätige Lead Designerin Mona Brandt zumindest kurzweilig grinsen ließ. Schlimmer noch: Die Achterbahn „Videospielentwicklung“ ist für Brandt und ihr Team noch nicht überstanden, denn die Suche nach einem Publisher läuft. Die Entwickler sind allerdings zuversichtlich langsam aber sicher nicht mehr viel finanzielles, inhaltliches oder organisatorisches Risiko aushalten zu müssen, um Ende 2023 „The Darkest Files“ veröffentlichen zu können.
Der in Stuttgart geborene Fritz Bauer und Generalstaatsanwalt in Frankfurt kannte das Wort „Risiko“ womöglich noch viel besser. Ab Juli 1945 respektive der Kapitulation des Dritten Reiches versuchten die alliierten Besatzer durch Demokratisierung und Entmilitarisierung fundamentale gesellschaftliche Umstrukturierungen zu initiieren. Die Idee der Entnazifizierung war allerdings eng verbunden mit systemischen Problemen. Die Absicht sämtliches nationalsozialistisches Gedankengut zu verbieten respektive bestmöglich auszuradieren beinhaltete auch die Umschulung von Jung wie Alt sowie die Neuaufstellung staatlicher Institutionen, was beides nicht kurzfristig effektiv möglich war, noch angesichts dessen, wie tiefgreifend primäre und sekundäre Sozialisation wirken, realisierbar. So musste mehr oder weniger schmerzlich toleriert werden, dass ein Justizwesen nicht ohne alteingesessene Fachkräfte wie Richter und Anwälte existieren könne. Dennoch wurden Drahtzieher und Assistenten des NS-Regimes juristisch von anderen Deutschen belangt. Die Ausschwitzprozesse ab 1963 sind ein Beispiel hierfür, die von jenem Fritz Bauer federführend durchgeführt wurden. Bauer, der selbst Jude und Sozialdemokrat war, kehrte nach ständiger, risikoreicher Flucht vor den Nationalsozialisten durch Nordeuropa 1949 nach Deutschland zurück, in tiefer Überzeugung, dass systematische Aufarbeitung juristisch notwendig sei:
Bewältigung unserer Vergangenheit heißt Gerichtstag halten über uns selbst, Gerichtstag über die gefährlichen Faktoren in unserer Geschichte, nicht zuletzt alles, was hier inhuman war, woraus sich zugleich ein Bekenntnis zu wahrhaft menschlichen Werten in Vergangenheit und Gegenwart ergibt, wo immer sie gelehrt und verwirklicht wurden und werden. Ich sehe darin nicht […] eine Beschmutzung des eigenen Nestes; ich möchte annehmen, das Nest werde dadurch gesäubert.
– Fritz Bauer, Frankfurter Rundschau, 14.07.1962
Bauer scharte hierfür junge, gewillte Anwälte um sich, die nicht älter als circa 30 Jahre alt waren. Somit waren sie eher unerfahren, aber nicht mit dem Nationalsozialismus verbandelt und nicht unbedingt mit dem Geschick ausgestattet, das es womöglich braucht, um die moralischen Distanzierungs- und Beschönigungsversuche der Mittäter des Nationalsozialismus (z.B. „Befehl ist Befehl. Und ein ehrbar Gefolgsamer führt diesen immer aus.“), die auch eindrücklich in den Videoaufzeichnungen des Nürnberger Prozesses dokumentiert sind, zu entkräften. Mit dieser Herausforderung wird der Spieler konfrontiert, der in die Rolle einer Staatsanwältin schlüpft, die als Teil des Teams von Fritz Bauer darum kämpft, kleinere wie größere Mittäter des Dritten Reiches rechtlich zu belangen. Dass womöglich manche Fälle nie ordentlich zur Anklage gebracht werden können, ist genauso denkbar wie das Vermasseln der Anklage und Beweisführung vor Gericht, obwohl laut Entwickler alle Fälle zu fairen Verurteilungen führen können. Richter alter Schule, fehlende Beweise, schwierige Faktenlagen, unsaubere Argumentationen … die Liste möglicher Versäumnisse ist lang. Umfänglich zu recherchieren, Zeugen ausführlich zu befragen sowie alle Indizien und Hinweise logisch nachvollziehbar aufeinander zu beziehen sind der Schlüssel im Spiel, um die aus der Realität adaptierten Gerichtsfälle der 1950er bis 1960er Jahre erfolgreich bearbeiten zu können.
Wenn die Prozesse einen Sinn haben, so ist es die unumgängliche Erkenntnis, dass Anpassung an einen Unrechtsstaat Unrecht ist. Wenn der Staat kriminell ist, weil er die Menschen- und Freiheitsrechte, die Gewissenfreiheit, das Recht auf eigenen Glauben, […] das Recht auf eigenes Leben systematisch verletzt, ist Mitmachen kriminell. Es ist, wie unsere Prozesse demonstrieren sollen, möglicherweise Mord, gemeiner Mord. Dabei macht es keinen Unterschied, ob ich selbst Hand anlege oder nicht. Es kommt nicht darauf an, ob an meinen eigenen Händen Blut klebt oder ob sie nur mit Tinte besudelt sind, ob ich aktiver Täter, Nutznießer oder nur beifällig nickender Zuschauer bin.
– Fritz Bauer, Neutralität. Kritische Zeitschrift für Kultur und Politik, 1964/65, Seite 9
Das für die Unity Engine entwickelte Spiel hebt sich dabei von ähnlichen Spielen wie „Interrogation“ (Critique Gaming, 2019) ab, weil es seine Spielmechaniken nicht primär auf Verhörstrategien legt, sondern auf die anwaltliche Arbeit eine wasserdichte, das heißt widerspruchsfreie und konsistente Beweisführung Fall für Fall zu erstellen. Die Entwickler gehen hierbei einen mutigen Weg, denn die Entscheidung, wie viel der in Gerichtsakten dokumentierten, verführerischen, moralisch scheinbar nachvollziehbaren, Wogen glättenden Argumentationen ohne Moderation dem Spieler zugetraut werden, ist schwer. Wie klar und eindeutig soll man Fälle präsentieren, die sich mit Rassismus beschäftigen? Wieviel Hilfe und wieviel moralisch-normative Fallen soll man stellen? Kurzum: Wieviel kann man dem Spieler zutrauen? Alles oder doch lieber etwas weniger?
Bisher hat Paintbucket Games sich bewiesen, verantwortlich mit dem Nationalsozialismus umzugehen. Ihr erstes Spiel „Through the Darkest of Times“ (2020) steht hierfür. Verantwortlich meint nicht, dass alles mit den sprichwörtlichen Samthandschuhen entwickelt und präsentiert werden muss, sondern dass die Ambivalenz des Wirkens und Charakters nationalsozialistisch gesinnter Menschen schonungslos konsistent und persistent abgebildet wird. Weder sind die Angeklagten Teufel noch Unschuldige. Sie sind Menschen. Darauf ein Videospiel zu bauen ist eine Kunst, weil das Wort „Spiel“ probieren oder experimentieren meint. „The Darkest Files“ ist mehr als ein simples Arbeitsblatt, das man zu genüge aus der eigenen Schulzeit kennt. Es kann vielleicht kurzweilig durchaus Dinge suggerieren, die nicht derartig intendiert waren. Löblich, dass sich die Entwickler von Paintbucket Games dem nicht entziehen, sondern eine echte Auseinandersetzung sogar unterstützen wollen. Dass dadurch das eigentliche Ziel, nämlich die Sensibilisierung für das Thema gewährleistet ist, ist selbstredend.