Trotz reduziertem „Point-and-Click“ transportiert das für das Jahr 2020 geplante „Svoboda 1945“ viel Inhalt, der über genuine Unterhaltung hinausreicht. An einem kleinen, unscheinbaren Stand in Halle 3 der Gamescom führte Vít Šisler, Lead Game Designer von Charles Games, in knappen zwanzig Minuten durch das Konzept des Spiels.
Wer spricht hier eigentlich?
Vít Šisler ist Lead Game Designer für „Svoboda 1945 beziehungsweise Charles Games. Er ist Assistenzprofessor der New Media am Institut für Informations- und Bibliothekswesen der Philosophischen Fakultät der Karlsuniversität in Prag. Seine Forschung befasst sich mit kritischen Ansätzen zur Schnittstelle von Kultur und digitalen Medien; das Internet, soziale Medien, Videospiele, die vernetzte Öffentlichkeit und Online-Communities. Vít hat ausführlich über Themen im Zusammenhang mit Medien, Kommunikation und digitaler Kultur publiziert. Seine Arbeit ist zum Beispiel im Communication Yearbook, European Journal of Cultural Studies, Information, Communication & Society, Global Media Journal, Multimedia Systems, Lecture Notes in Computer Science und im Middle East Journal of Culture and Communication erschienen.
Kim Sofer Matthias Um was geht es in „Svoboda 1945“ genau?
Vit Sisler Es ist ein narratives Videospiel über Geschichte, das heißt über historische Ereignisse, die in der Tschechsolowakei nach dem 2. Weltkrieg passierten. Es geht um die Zwangsausweisung von Deutschen aus der Tschechoslowakei, um die Etablierung des Kommunismus und die Enteignung von Land. Das Spiel ist ein Sequel zu seinem Vorgänger „Attentat 1942“, das eine historisch akkurate Geschichte über die Übernahme der Tschechoslowakei durch die Nazis und die Ermordung von Reinhard Heydrich sowie die Konsequenzen der brutalen Vergeltungsmaßnahmen nach der Ermordung erzählt. „Attentat 1942“ gewann verschiedene Preise wie den „Most amazing game“ beim A Maze. Festival 2018 und wurde sogar für den Preis des „IGF Excellence in Narrative“ nominiert.
Kim Sofer Matthias Warum gibt es dieses Spiel? Was war eure Motivation?
Vit Sisler Zuallererst: Es ist von Anfang an als Spielserie gedacht worden. Drei Titel sollen es werden, die sich alle um die persönlichen Geschichten aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der Tschechoslowakei drehen. Im ersten Spiel geht es um die Übernahme, im zweiten um die Zeit nach dem Krieg und das dritte soll sich um den Kommunismus und den Prager Frühling 1968 drehen. Wir haben mit dem Ganzen begonnen, weil wir als Entwickler auch Videospieler sind. Wir lieben Spiele und denken, dass sie sind ein großartiges Medium sind, um Geschichten zu erzählen. Wir sind außerdem davon überzeugt, dass es sehr starke Geschichten in unserer eigenen Historie gibt. Ich selbst meine, dass Spiele es leisten können, intime und ernste, das heißt menschliche Erfahrungen zu thematisieren. Darum haben wir das Projekt gestartet.
Kim Sofer Matthias Es ist ein toller Mix aus verschiedenen Stilen. Warum habt ihr euch für diese Stile zur Illustration der Erzählungen entschieden? Und warum habt ihr die Erzählungen der Personen wie in Dokumentationen gestaltet?
Vit Sisler Es gibt verschiedene Erzählzeiten im Spiel. Gegenwärtig begibt sich der Spieler in ein kleines Dorf an der deutsch-tschechischen Grenze an. Man beginnt mit Leuten zu sprechen bis man erfährt, dass die eigene Familie auch in die Ereignisse nach dem Krieg in dem Dorf involviert war. Die Interviews haben wir mit Schauspielern aufgenommen. Wenn sie über ihre persönlichen Erinnerungen sprechen, das heißt vergangenes berichten, stellen wir diese Geschichtsteile als Comics dar. Zusätzlich verwenden wir seltene, digitalisierte Aufnahmen aus dem Nationalen Filmarchiv der Tschechischen Republik, um neben den Comiclook echte, gefilmte Ereignisse zu stellen. Es ist dabei wichtig zu betonen, dass die Personen, die im Spiel sprechen, Schauspieler und fiktionale Charaktere sind. Die Dialoge sind von professionellen Historikern der Tschechischen Akademie der Wissenschaften geschrieben, wobei das gesamte Spiel zusammen mit der Karls-Universität Prag entwickelt wurde. Alles, was erzählt wird, basiert auf echten Zeugenaussagen und gut dokumentierten Ereignissen. Es ist somit ein fiktionales Werk, basiert aber auf Zeugnissen.
Kim Sofer Matthias Wie war denn die Arbeit mit den Schauspielern? Wie wurden sie vorbereitet?
Vit Sisler Ich bin Teil eines sehr großen Teams. Unter den Mitgliedern ist ein speziell für das Spiel arbeitender Regisseur, der nur für die Filmaufnahmen zuständig ist. Für jedes unsere Spiele hatten wir einen anderen Regisseur Filmcrew. Beispielsweise bestand das Filmteam von „Attentat 1942“ komplett aus anderen Personen als das, das für „Svoboda 1945“ die Aufnahmen durchführt. Bezüglich der Produktion von „Attentat 1942“ entschied sich der Regisseur für Laienschauspieler, was dem Spiel einerseits viel Authentizität gab aber andererseits auch viele Probleme für die Produktion bedeutete.
Für „Svoboda 1945“ entschied sich unser Regisseur hingegen für professionelle Schauspieler. Ich finde, dass sie einen sehr guten Job, weil es ihnen gelingt, die Geschichte sehr emotional, sehr eindringlich zu erzählen. Es ist eine inhaltsschwere, gewichtige Geschichte. Ich denke, dass das Spiel in dieser Hinsicht weiter geht als übliche Triple-A Titel, denn es basiert auf echten Ereignissen über Charaktere, die erfunden sind. Das, was erzählt wird, ist Fakt, das heißt tatsächlich passiert.
Kim Sofer Matthias Und was ist dein Hintergrund? Wie soll der Spieler in dieses Szenario eintauchen?
Vit Sisler Ich beschäftige mich mit dem Fach der „New Media“, Videospielen und Videospieldesign seit drei Jahren. Ich selbst bin kein Historiker, wir arbeiten in Kooperation mit diesen am Spiel. Das Spiel ist auch für mich persönlich relevant, weil mein Vater in einem Dorf im deutsch-tschechischen Grenzgebiet geboren wurde. Das, was im Spiel passiert, ist auch Teil meiner persönlichen Familiengeschichte. Selbst wenn ich nicht dabei war und es aus erster Hand erlebt habe, sehe ich die Auswirkungen der kommunistischen Zeiten in meiner Familie, denn mein Vater war Involvierter der Ereignisse von 1968. Ich habe somit eine persönliche Verbindung zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert. Ich glaube, dass genau deshalb das Spiel derart emotional ist. Es steckt viel Leidenschaft darin und es ist sehr präzise. Ich bin persönlich involviert von Anfang an und wollte Spiele über die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts machen. Es ist etwas, was ich seit vielen Jahren machen wollte. Mittlerweile haben wir die Kapazitäten dafür und wissen, wie wir das Projekt umsetzen können. Die Arbeit mit der Karls-Universität Prag und der Tschechischen Akademie der Wissenschaften ist dabei sehr wesentlich.
Kim Sofer Matthias Wieso ist dieses Spiel relevant und warum sollte man es spielen?
Vit Sisler Zuerst einmal ist es ein Spiel mit einer starken Geschichte. Es ist ein narratives Spiel, das jeder spielen und genießen kann. Es gibt (zu) viele vergessene Geschichten und vergessene Ereignisse, die eigentlich auf mehreren Ebenen sehr interessant und erzählenswert sind. Gleichsam ist es ein sehr lehrreiches Spiel.
Kim Sofer Matthias Somit etwas, was auch für die Schule und den Bildungssektor denkbar ist?
Vit Sisler Die auf der Gamescom präsentierte Version ist für jeden Spieler gedacht. Es ist historisch akkurat und beinhaltet viele Lehrmomente. Wie jedes Kunststück, kann auch dieses zum Lehren genutzt werden. Beispielsweise haben wir eine spezielle Version von „Attentat 1942“ zusammengestellt, die in tschechischen Schulen verwendet wird. Für „Svoboda 1945“ existiert solch eine Version nicht.
Kim Sofer Matthias Wir waren die Reaktionen bisher auf der Messe?
Vit Sisler Wir hatten wirklich positiv, absolut großartige Reaktionen von den Spielenden. Die meisten, die es gespielt haben, waren sichtlich berührt. Vielen, die bereits „Attentat 1942“ durchgespielt hatten, gefiel „Svoboda 1945“ besser. Ich bin stolz darauf, was wir mit „Attentat 1942“ geschaffen haben, aber ich fokussiere mich momentan darauf, dass „Svoboda 1945“ perfekt wird. Wir konnten viel durch unseren ersten Tite lernen und haben als Konsequenz viele Aspekte verbessert beziehungsweise anders ausgestaltet. Wir als Team wollten ein Spiel über umstrittenen Themen machen. Es gab keinerlei Vorschriften - wir probierten es aus. Ich bin zufrieden, wo wir momentan stehen.
Wir würden gerne nicht nur für PC, Mac, iOS und Android entwickeln. Die Nintendo Switch, PlayStation oder Xbox ist für uns genauso interessant. Deshalb sind wir auch auf der Gamescom, um Publisher zu suchen, die uns unterstützen wollen.