Das Wort „Sucht“ ist ein starker Begriff, der abseits des Klinischen und deren Experten innerhalb der Bevölkerung Aufmerksamkeit erregt und anschließend zumindest ein paar Wochen hitzig diskutiert wird. Fakten und wissenschaftlichen Erkenntnisse werden meist oberflächlich und fehlinterpretiert. Verkürzte Perspektiven werden anschließend in Diskussionen und Debatten eingewoben - im Bereich der Videospiele bildet dies erst recht keine Ausnahme. Trotz hitziger Diskussionen versickert stets solch ein mehrfach angegangenes Thema nach wenigen Wochen wieder, sobald die einschlägigen Medien es für nicht mehr relevant genug halten. Selten wird frei für jeden zugänglich und gleichzeitig verständlich der dahinterstehende Inhalt dargelegt beziehungsweise ansatzweise umfänglich bearbeitet.
Fakt ist, dass bereits 2009 circa 40 Milliarden US Dollar mit Videospielen umgesetzt wurden (Aldermann 2009); Tendenz steigend. Zweidrittel aller Haushalte in Kanada, Westeuropa, den Vereinigten Staaten, Japan, Australien, Südkorea und andere Staaten konsumierten mindestens ein Videospiel auf irgendeiner Konsole oder einem PC (ESA 2010). Indien, Brasilien, Russland und weitere Schwellenländer schließen dabei recht schnell auf (Butler, 2009; Walsh, 2009). Es ist daher keine große Überraschung, wenn sich Wissenschaftler aus verschiedenen Disziplinen, eingeschlossen der Psychologie, solch einem internationalen, kulturübergreifenden Phänomen zuwenden, gerade um dieses auch im Hinblick auf pathologische Risiken zu untersuchen. Im ersten Teil dieser kleinen, populärwissenschaftlichen Reihe zum Thema „Videospielsucht“ wird exemplarisch die Arbeit von Jean Oggins und Jeffrey Sammis (2010) genauer vorgestellt, um einen ersten Eindruck davon zu bekommen, wie bisher mit der Videospielsucht in der Forschung umgegangen wurde und wie Wissenschaftler versuchen sich diesem psychologischen Phänomen zu nähern, um überhaupt zu wissen, mit was sie es zu tun haben.
Sucht bezeichnet im Allgemeinen einen andauernden, schleichenden Krankheitsverlauf; etymologisch stammt „Sucht“ von „siechen“ ab. Als recht produktiv für die Wissenschaft hat sich Mairs (2003) Definition zur „Sucht“ etabliert: „Etwas als krankhaft beziehungsweise krankhaft übersteigert zu charakterisieren wird durch die Wortverknüpfung […]sucht gekennzeichnet“. Ähnlich dazu die Definition der WHO: Sucht entspricht „einem Zustand periodischer und chronischer Vergiftung, hervorgerufen durch den wiederholten Gebrauch einer natürlichen oder synthetischen Droge“. Dennoch ist das Wort „Sucht“ in der Gesellschaft vollgepackt mit Zuschreibungen, die dem Erkrankten durchaus psychisch schaden können, ihn nicht selten stigmatisieren. Um diesem Problem der Etikettierung einer Person entgegenzukommen spricht man in der Wissenschaft meist von „Abhängigkeit“ anstatt von „Sucht“.
Eine große Problematik, die auch Oggins und Sammis betraf, ist das Fehlen einer einheitlichen Definition der Videospielabhängigkeit. Zusätzlich ist diese Art einer Abhängigkeit bis dato noch nicht als solche akzeptiert; vermutlich auch deshalb, weil es keine substanzgebundene Droge ist und es daher nicht unwahrscheinlich ist, dass es sich hierbei um eine komplett andere Art von „Sucht“ handelt. Wood (2008) beispielsweise bezweifelt, dass es eine Videospielsucht überhaupt gibt. Wohlmöglich puscht die etablierte Sichtweise von „Sucht die Verbindung zu Videospielen unnötig hoch, dabei es sich vielmehr um eine generelle Abhängigkeit handelt, die sich nicht nur im Konsum von Videospielen zeigt. Dieser Idee folgend finden sich seit einiger Zeit Tendenzen, die von einem „problematischen Gebrauch von Videospielen“ anstatt von „Videospielabhängigkeit“ sprechen (King, 2009).
Die Meisten denken bei den Begriffen „Sucht“ oder „Abhängigkeit“ an eine substanzgebundene Problematik wie etwa verursacht durch Alkohol oder andere Drogen, die dann wiederrum messbare Auswirkungen auf das Gehirn oder das Blut haben und grob gesprochen recht ähnlich funktionieren. Verhalten wie exzessives Spielen am PC oder Konsolen ziehen solche Auswirkungen nicht nach sich (Holden, 2001). Holden (2001, 2010) beschreibt stattdessen deutliche Hinweise, die auf verhaltensbezogener Ebene anzusiedeln sind. Hierbei spielen einige Substanzen, hauptsächlich aber der Botenstoff Dopamin eine entscheidende Rolle, der folglich durch seine belohnende Wirkung ein gewisses Verhalten positiv verstärkt. Diese Dopaminausschüttung ist etwa bei Glückspielern gut zu beobachten: Das Spielen wird zur Droge durch die erhöhte Ausschüttung des Dopamins und der damit einhergehende besseren Stimmung, sowie dem erfahrenen Glücksgefühl. Nichtsdestotrotz wird eine Videospiel- oder Internetabhängigkeit meist als eine Symptomatik angesehen, die eine tiefgreifendere Störung zur Ursache hat. Beispielsweise sind hier Depressionen, ADHS, andere Impulskontrollstörungen und so weiter denkbar (Black et al., 1999; Shapira et al., 2000; Wood, 2008).
Startpunkt einer Studie
Oggins und Sammis konzentrierten sich 2009 vor allem auf sogenannte „massively multidimensional online games“ (MMOs). Zum einen, weil viele solche Spiele schon damals spielten. Zum anderen, weil diese Spiele sehr zeitintensiv sind. Unter diesen wählten sie dasjenige Spiel aus, das um 2009 herum mit am erfolgreichsten war, „World of Warcraft“ (Blizzard Entertainment, zuletzt Warlords of Draenor, 2014), wohlwissend, dass sie damit keine repräsentative Stichprobe erhalten würden aber dennoch eine Sparte in der Videospielszene anvisieren, die ein oftmaliges Spielen fast dem Konsumenten aufzwingt: Im Bereich der MMOs gab es zu diesem Zeitpunkt ein Übergewicht seitens der männlichen Jugendlichen. In einer vorausgehenden Studie von Williams und Kollegen (2008) zum Spiel „EverQuest“ (Verant Interactive, 1999) konnte aufgrund einer zufallsgenerierten Stichprobe bestehend aus 7000 EverQuest Spielern, die im Schnitt 31 Jahre alt waren, gezeigt werden, dass circa 80% der Spieler männlich waren. Dieses Vorwissen und die damit beinhaltete Problematik der fehlenden Repräsentativität nahmen Oggins und Sammis in Kauf. Eine Generalisierung der Befunde war daher von Anfang an nicht möglich.
Jede wissenschaftliche Studie beruht, vor allem wenn sie Grundlagenforschung ist, auf wohlüberlegten theoretisierten Annahmen. Die Autoren gehen in ihrer Studie davon aus, dass es sich bei der Videospielabhängigkeit um ein sozio-kognitives Phänomen handelt, was wiederrum auf Bandura und dessen kognitiven Theorien beruht – mehr aber auch nicht, denn eine genaue Definition dieser Sucht fehlt beispielsweise. Deshalb ist die Herangehensweise Oggins und Sammis eine pragmatischere: Anstatt sich theoretische Modelle zur Videospielabhängigkeit zu überlegen, die dann in einem weiteren Schritt statistisch abgebildet werden, gehen die Wissenschaftler viel empirischer an das Thema heran. Sie befragen die Probanden, welche Anzeichen Videospielabhängigkeit charakterisiert. Die Versuchspersonen in der Stichprobe sind dadurch, dass sie Videospiele konsumieren – und das unter Umständen über alle Maßen – Experten darin, Eigenschaften der Abhängigkeit zu benennen und die Wirkung eines Spiels, das lange konsumiert wird, zu beschreiben.
Gleichzeitig wurde zur Kontrolle plus der Problematik, dass Eigenbefragung nicht sehr reliabel sind, und um ein bereits standardisiertes Verfahren miteinzubeziehen eine modifizierte Version des „Internet Adicition Test“ (IAT) von Young (1998) übernommen. Da man davon ausgehen kann, dass eine Internetabhängigkeit sich ähnlich zu einer Videospielabhängigkeit verhält (beide sind zumindest substanzungebunden), wurde im IAT das Wort „Internet“ durch „Videospiel“ ersetzt.
Die reinen, messbaren Fakten
438 Befragte aus den USA konnten insgesamt analysiert werden. Im Schnitt benutzten sie ihren Computer acht Stunden am Tag, wovon durchschnittlich 5,5 Stunden auf das Spielen zu verbuchen sind. Fast dreiviertel aller Befragten (73%) lagen hinsichtlich des modifizierten IAT in einem sogenannten „häufige Probleme, eine Abhängigkeit kann sich entwickeln“ Bereich. Weitere 6% der Spieler lagen im kritischsten Bereich „Sind höchstwahrscheinlich abhängig oder entwickeln diese“. Die Antwort auf eine einzelne, isolierte Frage, ob sie sich selbst als videospielabhängig bezeichnen würden, beantworteten 44% mit „ja“. Diejenigen, die sich selbst als abhängig beschrieben, hatten einen vergleichsweise höheren, täglichen Konsum, höhere Werte im modifizierten IAT, waren alleinstehend, arbeitslos und „nicht kaukasisch“.
Vorstellungen zur Videospielabhängigkeit
Die Antworten der Versuchspersonen zu deren Perzeptionen bezüglich der Videospielabhängigkeit lassen sich grundsätzlich in vier große Cluster zusammenfassen:
Die kognitive Salienz
40% der 438 Befragten meinten, dass eine Videospielabhängigkeit Verhalten einschließt, das auf die kognitive Salienz, die Omnipräsenz des Videospiels abzielt. Das Videospiel ist Zentrum täglicher Planungen; der Abhängige denkt und konsumiert das Spiel verhältnismäßig oft, kalkuliert vor dem Zubettgehen Videospielstatistiken durch und so weiter: Das Spiel ist das Zentrum seines Lebens. Die durchschnittliche Stundenangabe belief sich dabei auf acht Stunden Spielzeit pro Tag. Weitergehend wurde auf die sogenannten „All-nighter“ und „Raids“ verwiesen. Der Spieler bleibt dabei bedingungslos bis in die Morgenstunden wach, um möglichst alle Errungenschaften und möglichen Ziele zu erfüllen. Einen Raid zu verpassen ist für ihn ein Ding der Unmöglichkeit.
Gemütsmodifikation
Ungefähr 11% verbanden pathologischen Videospielkonsum mit der Idee, dadurch die eigene Befindlichkeit zum Besseren hin zu verändern. Spiele seien damit ein Mittel zur Reduktion depressionsbedingter Symptome und stellen gleichsam auch eine Fluchtmöglichkeit aus dem Alltag oder gar der Realität (Eskapismus) dar, so die Aussage von 4% aller Befragten.
If there is a problem, just hit the ignore button or change the server […] Whenever I am depressed or wanting to escape from the real world into something I can manage and control is when I will resort to playing video games. That is addiction in that some aspects of life are undesirable and the only true escape is to escape to another world where you are something else and can enjoy the sense of fantasy that can exist only in those imaginary worlds.
– Anonymer Proband, Oggins & Sammis (2010)
6% äußerten, dass Spiele die beste Möglichkeit darstellen, Langeweile und sonst „fade“ Stunden relativ schnell vorübergehen zu lassen. Befragte, die Videospiele zur Sozialisation beziehungsweise zur Kontaktpflege ihrer Freunde beschrieben (3%), gaben gleichsam darüber Auskunft, dass sie es präferierten, Menschen online anstatt im „Real Life“ zu treffen, um mit ihnen zusammen Ziele im Spiel zu bearbeiten.
Many of the people that I game with are now considered some of my closest friends, despite the fact that we have not met in person. I call them on the phone and have out-of-game contact with them.
– Anonymer Proband, Oggins & Sammis (2010)
Die Aussage eines anderen Befragten bringt es dabei noch genauer auf den Punkt:
It is like you are hanging out with your friends, just over the Internet.
– Anonymer Proband, Oggins & Sammis (2010)
Weiter gefasst könnte die Loyalität gegenüber Online-Freundschaften oder gegenüber einer Gilde ein Teil des Auslösers und der Abhängigkeit selbst sein. Auch hierzu lassen sich einige Hinweise in den Aussagen der Befragten finden:
The only video game I got addicted to was WoW because of my dedication to my guild [...] I don’t look forward to any prolonged time away from my online friends, even to spend time with friends I have in real life.
I am quite well known, and my avatar’s name would be recognized by more than 10,000 people; I directly manage/lead people with online time similar to my own. This is a facsimile of a social life, I know.
– Anonymer Proband, Oggins & Sammis (2010)
Selbstregulation
Ein weiteres Verhalten, das mit der Videospielsucht assoziiert wird, ist der grenzenlose und nicht regulierte Konsum eines Videospiels. 10% aller Befragten sahen die Regulationsproblematik als einen Indikator für eine Abhängigkeit, die vor allem dadurch gekennzeichnet ist, dass die Spieler nicht vom Spielen ablassen können.
I feel like I can’t really stop playing the game. It’s become more like an occupation or obligation than something optional at the end of the day if I have time.
– Anonymer Proband, Oggins & Sammis (2010)
Dies kann sich verschärft in ein Verhalten verwandeln, das ca. 1% aller Befragten schilderten und ebenfalls einen Übergang zum „ziellosen“ Konsum beschreibt:
I log into the game regardless of whether or not I feel like playing. […] Even when I’m bored of them, I do not go outside or call a friend, I just switch games and keep going.
– Anonymer Proband, Oggins & Sammis (2010)
Entzugserscheinungen und Toleranz
5% der Befragten würden sich als videospielabhängig bezeichnen, wenn sich Depressionen, Aggressionen, Stress, physische Symptome oder Ähnliches zeigen würden, sobald sie aufhören würden zu spielen. Interessanterweise berichtete nur eine Person davon, dass die Entwicklung einer gewissen Toleranz und der damit einhergehender, stetig wachsender Konsum die Folge und Eigenschaft einer Abhängigkeit ist. 2% teilten die Meinung, dass eine Videospielabhängigkeit nicht isoliert auftritt, sondern andere Abhängigkeiten wie beispielsweise Alkoholismus oder etwaige Drogen gleichzeitig wirken würden. Genauso viele, 2% der Probanden, behaupteten allerdings, dass dadurch, dass ein Videospiel keine psychoaktive Substanz ist, eine Videospielsucht oder ähnliches gar nicht existiere oder möglich sei.
Amazingly, not playing Warcraft for a few days can send me into withdrawal, similar to my old vice, caffeine addiction.
– Anonymer Proband, Oggins & Sammis (2010)
Einzelne Elemente korrelierten miteinander. Die meisten Angaben folgten demnach einer gewissen Logik, einer Systematik, sodass die Aussagen in einem Verbund gesehen werden müssen. Beispielsweise standen die Aussagen „Oft an Videospiele denken“, „Viel spielen“ und „Verschwommene Wahrnehmung von Fiktion und Realität“ in einem positiven Zusammenhang. Damit beschrieben die meisten Videospielabhängigkeit nicht als loses oder gar eindimensionales Konstrukt, sondern beschrieben es in vielerlei Facetten. Die genauen Zusammenhänge und Systematik werden zum Schluss noch einmal genauer beleuchtet und diskutiert.
Auswirkungen einer Abhängigkeit
Chores are chores, work is work, not wanting to do them is natural. But not wanting to spend time with my friends or family would make me wonder if I was really addicted.
– Anonymer Proband, Oggins & Sammis (2010)
Neben den Eigenschaften gibt es auch Auswirkungen, die Oggins und Sammis (2010) in der gleichen Studie ebenfalls eruiert haben. Eine Mehrheit der Spieler, insgesamt 62%, bestätigte, dass ihrer Meinung nach Videospiele andere Aktivitäten beeinträchtigen können, wie zum Beispiel die Sozialisation (35%), die Arbeit (20%) oder die Schule (11%). Darüber hinaus tendierten Angestellte und Schüler systematisch zu sagen, dass Spiele die Leistungsfähigkeit auf der Arbeit respektive in der Schule störend beeinflussen. Die folgende Tabelle „Wahrnehmbares Verhalten, das eine Abhängigkeit zeigt“ stellt die Aussagen der Befragten zu den potentiellen Auswirkungen einer Videospielabhängigkeit nochmals detaillierter dar. Dabei beziehen sich die einzelnen Prozentwerte auf die Grundgesamtheit aller, die zu dem spezifischen Bereich Angaben machten.
Wahrnehmbares Verhalten, das eine Abhängigkeit anzeigt | ||||
---|---|---|---|---|
Sozialisation | 35% | |||
Freundschaften | 50% | Zusammen ausgehend | 13% | |
Leute treffen | 32% | Beziehungen generell | 8% | |
Familie, Ehe, Kinder | 26% | Sexuelles Verhältnis | 3% | |
Arbeit | 20% | |||
Nicht zur Arbeit gehen | 38% | Jobverlust | 9% | |
Sicht verringernde Leistungsbereitschaft | 19% | Arbeit kündigen | 8% | |
Gleichgültigkeit beim Arbeiten | 18% | Spiele bei der Arbeit spielen oder darüber nachdenken | 4% | |
Nicht nach Arbeit suchen | 12% | |||
Schule | 11% | |||
Schule schwänzen | 32% | Gleichgültigkeit | 19% | |
Hausaufgaben und Lernen vernachlässigen | 28% | Schule abbrechen | 9% | |
Verschlechterte Noten | 23% | Spiele in der Schule spielen oder darüber nachdenken | 2% | |
Oggins & Sammis (2010) |
Implikationen
Zusammenfassend ergibt die Studie von Oggins und Sammis (2010) folgendes Bild: Unter allen teilnehmenden WoW-Spielern, die Auskunft über die Charakteristik der Videospielabhängigkeit gaben, benannten sich über 40% als abhängig, obwohl nur 6% davon messbar in einen Hochrisikobereich fielen (vgl. modifizierter IAT, Young 1998). Diese niedere Prävalenz deckt sich mit Ergebnissen von Gentile (2008) und Cypra (2005), die basierend auf einer Symptomchecklistmessung problematischer Nutzung von Videospielen ähnliches herausstellen konnten. Genauer rangierten dort nur 8.5% der Kinder und um 5% der erwachsenen MMO Nutzer in einem Hochrisikobereich. Yees Studie (2006b) beschreibt, dass von 5500 untersuchten MMO Spielern fast die Hälfte sich als abhängig einstufte. Allerdings waren die Probanden in Oggins und Sammis Studie im Vergleich zu anderen wissenschaftlichen Arbeiten recht jung (23 vs. 26 – 31 Jahre im Mittel) und spielten deutlich mehr (37.5 vs. 23 – 26 Stunden).
Spieler in dieser Studie definierten Videospielabhängigkeit meist unter dem Begriff der positiven oder negativen Salienz eines Spiels im eigenen Leben: Viel spielen, viel über Videospiele sprechen und nachdenken oder gar so viel konsumieren, dass andere Aktivitäten beeinträchtigt werden, waren die Hauptpunkte. Zusätzlich waren die Faktoren der Gemütsmodifikation und das Fliehen vor Problemen wichtig. Auch hierzulassen sich ähnliche Befunde beispielsweise bei Lee und LaRose (2007) finden. Spieler scheinen sich anfänglich bewusst dafür zu entscheiden, ein Spiel zu spielen, was allerdings über die Zeit hinweg weniger Regulation und kritische Selbstreflektion erfahren kann und dadurch den Spieler auf das Spiel konditioniert. Wohlmöglich basieren die Ideen der WoW-Spieler aus Oggins und Sammis Studie auf ähnlichen Erfahrungen und Eindrücken.
Toleranz und Entzugserscheinungen
Im Kontrast dazu stehen die eher mageren 10% oder weniger, die eine Toleranzentwicklung oder Entzugserscheinungen als ein Zeichen für eine Abhängigkeit angaben und das obwohl die Wissenschaft allgemein genau dies als ein wichtiges Kriterium für einen problematischen Konsum definieren. Die prozentualen Unterschiede, die in einigen Studien (beispielsweise Gentile, 2008; Cypra, 2005) zwischen den Eigennominierungen und den Messungen einer Videospielabhängigkeit auftraten, könnten aber genau dadurch erklärt werden. Andere Arbeiten schlagen zusätzlich vor, dass die Neigung eines Spielers zu einer Abhängigkeit wahrscheinlich durch deren Entwicklung gut erklärt werden kann. Chappell und Kollegen (2006) zeigen, dass Spieler ein zu Beginn gemochtes Spiel über die Zeit hinweg immer mehr ablehnten, sobald sie registrierten, dass dieses ihre Lebens- und Tagesplanung beeinflusste. Dabei waren aber Faktoren wie Entzugserscheinungen oder Toleranzentwicklungen nebensächlich, obwohl die Wissenschaftler den Probanden Angaben dazu entlocken konnten. In Charltons Studie aus dem Jahr 2002 mit College Schülern konnte per Faktorenanalyse klar gezeigt werden, dass die Faktoren „Einstellung zu Computerspielen“ (zum Beispiel Euphorie) und „Abhängigkeit“ (zum Beispiel Entzugserscheinungen) voneinander getrennt existieren. Daraus ableitend kam Charlton zu der Aussage, dass ein hohes Gebundensein an den Computer dann als eine Abhängigkeit von Personen interpretiert wurde, sobald diese Bindung negative Konsequenzen nach sich zog. Allerdings hatte Charltons Studie das Problem, dass es sich nicht um eine Längsschnittstudie, das heißt eine Langzeitstudie, handelte. Erst dann wäre es möglich gewesen Aussagen über die Entwicklung zu treffen.
Sichtweisen auf die Videospielabhängigkeit
Die statistischen Zusammenhänge zwischen den Sichtweisen der Befragten und den eigenen Aussagen, ob man sich selbst als abhängig bezeichnen würde, deuten darauf hin, dass die Probanden einige Verhaltensmuster einer Videospielabhängigkeit akzeptabler finden als andere. Diejenigen, die den Abhängigkeitsfaktor „Viel über Videospiele nachdenken und viel spielen“ als relevant hielten, tendierten selbst dazu sich als abhängig einzustufen und hatten zudem im modifizierten IAT höhere Werte als die restlichen. Vielleicht lässt sich dies darauf zurückführen, dass die Spieler eine Abhängigkeit nicht von einem non-pathologischen, hohen Engagement für Spiele unterscheiden konnten, was beispielsweise schon Charlton (2002) in Erwägung zog. Möglicherweise erkannten sie bei sich selbst Gründe und Faktoren, die es erschweren das Spiel links liegen zu lassen, was sie wiederum anschließend dazu bewog, sich als abhängig einzustufen. Hinzu kommt Yees (2006a) Aussage, dass Beschreibungen von MMO Spielern zum problematischen Videospielkonsum positiv mit einer hohen Spielzeit pro Woche oder mit dem Aspekt des Flüchtens aus dem Alltag oder der Realität korrelierten. Yee kombinierte in seiner Erklärung dabei verschiedene interne Motivationsmuster und äußere Verstärker, die in einem Wechselspiel miteinander verschiedene Spielmotivationen nach sich zogen. Das Gleiche könnte auch für die Sicht auf die Videospielabhängigkeit der einzelnen Probanden zutreffen: Nicht alle sehen und verstehen die Videospielabhängigkeit gleich, sondern schauen von verschiedenen Warten aus auf sie.
Kongitive Regulationsmechansimen
Ein letzter Kontrast nach Oggins und Sammis (2010) bildet die Tatsache, dass Spieler sich eher als abhängig bezeichneten, wenn sie gleichsam auch die Problematik der mangelhaften Selbstregulation als Faktor für die Entstehung und Aufrechterhaltung einer Videospielabhängigkeit sahen. Für diese Gruppe war entscheidend, dass die Selbstbestimmung ein klares Zeichen dafür ist, nicht abhängig zu sein. Sofern diese Selbstbestimmung, wann gespielt wird, nicht mehr gegeben ist, ist eine Abhängigkeit sehr wahrscheinlich. Gleichsam konnten Oggins und Sammis (2010) zeigen, dass die Sorge um den eigenen Job, die Leistung in der Schule und die Beziehungen zu Freunden einen niederen IAT Wert nach sich zog. Hierzu sind die Arbeiten von Lee und und LaRose (2007) zu nennen, die für die Selbstregulation zwei kognitive Prozesse identifizierten: Einbeziehung sozialer Normen und die Selbstevaluation des eigenen Spielverhaltens. Hierbei kann rückwirkend die Aussage, dass der Videospielkonsum andere Bereiche des eigenen Lebens nicht negativ beeinflussen darf und dass ein Videospiel nicht die einzige Aktivitäts- oder Glückgefühlsquelle sein soll, ein kognitives Regulativ sein, was sich wiederum in den niederen IAT Werten messbar niederschlägt. WoW-Spieler, die sich als abhängig einstuften, waren wie eingangs bereits erwähnt eher Single, arbeitslos und tendierten dazu zu sagen, dass Videospiele keinen Einfluss auf andere Bereich des eigenen Lebens haben können.
Freundschaften: Offline versus Online
Es scheint so, dass Spieler, die weniger Prioritäten außerhalb des Videospielens besaßen, Schwierigkeit hatten sich selbst selbstregulativ bezüglich ihres Konsumverhaltens zu analysieren, dabei insbesondere vor allem Spieler eher der Auffassung sind, dass Spiele Freundschaften negativ beeinflussen können (vgl. Hussain & Griffiths 2009). Die Sorge um Freundschaften scheint generell unter Spielern weit verbreitet. Sogar für jene, die arbeitslos sind, nicht zur Schule gehen oder keinen Partner haben. In Smyths (2007) ein Monat Experiment waren vor allem die MMO Spieler eher dabei, Freundschaften durch das Videospiel zu knüpfen. Anders geartete Titel ließen dies nicht zu. Gleichsam beeinflussten die neu geknüpften Freundschaften im Spiel bereits existierende Freundschaften beziehungsweise das bestehende soziale Leben. Der Anreiz von MMOs ständig neue Leute kennenzulernen, kann den Spieler von seinen existierenden Freundschaften dadurch weglotsen, dass das Spiel noch viel zeitintensiver wird, als es eh schon ist. Allerdings sollte bemerkt werden, dass Smyths Studie eine Kurzzeitstudie ist, die den Probanden genug Zeit ließ, ihre offline Freundschaften genauso wie ihre online Freundschaften zu pflegen.
Also alles klar, oder?
Studien zielen oft auf ein komplexes Phänomen, was vor allem in der Psychologie dazu führt, dass sie schwer zu lesen sind und es mehrere Anläufe braucht, bis man gedanklich alles erfasst hat. Auf gemessene Ergebnisse folgt stets eine Interpretation dieser, die stets mit Vorsicht genossen werden sollten, da Interpretationen nicht unumstößlich sind und ab und an auch über das Ziel hinausschießen können, weil beispielsweise die Grenzen der eigenen Studie und die Grenzen der Aussagefähigkeit der Messungen nicht genügend respektiert wird. Gute Studien kennen ihre Grenzen und wissen um die eigene Fehlbarkeit und Schwächen, selbst wenn sie nicht wirklich genannt werden. Aussagen, die durch soziale Erwünschtheit (Ideales Ich vs. eigenes Verhalten) oder durch schwammige Erinnerungen verzerrt wurden, sind in Eigenberichten nicht unwahrscheinlich. Dadurch können Daten entstehen, die nicht adäquat und scharf das widerspiegeln, was versucht wurde zu erfassen, obwohl nach Wood und Kollegen (2004) Spieler wahrheitsgemäßer in Onlinebefragungen antworten als offline. Zudem war die Gruppe der untersuchten Personen recht jung, in überwiegender Zahl männlich, sodass die Stichprobe artifiziell einen signifikant höheren Konsumdurchschnitt pro Woche haben könnte als viele andere MMO-Studien (z.B. Yee, 2006b; Peters & Malesky, 2008). Der Fehler könnte womöglich darin liegen, dass Probanden vor allem aus Foren angeworben wurden, einer Gruppe, die durchschnittlich mehr Zeit aufgrund ihres Engagements für das Spiel aufbringen, als der durchschnittliche WoW-Spieler (vgl. King et al., 2009). Die Ansicht, dass eine Videospielabhängigkeit viel spielen und viel über Spiele nachdenken beinhaltet, scheint charakteristisch für eifrige MMO Spieler zu sein. Teilnehmer, die keine Angaben zur ihrer Sicht auf die Abhängigkeit gaben, waren gleichzeitig unverhältnismäßig oft geneigt dazu sich als abhängig zu charakterisieren, was widersprüchlich ist. Hätten mehr solcher Spieler an der Studie teilgenommen, wäre höchstwahrscheinlich ein höherer Prozentsatz zustande gekommen, der den Fokus auf Toleranzentwicklung und Entzugserscheinungen gelegt hätte.
Literaturverzeichnis
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