Am dritten Tag der Gamescom, am frühen Vormittag, als der Booth von CD Projekt Red im Vergleich zu den vorherigen Tag noch kaum besucht war, führte uns Richard Borzymowski in einen recht tiefen, schmalen Konferenzraum, um für eine knappe viertel Stunde über „Cyberpunk 2077“ zu sprechen. Abgesehen von der Begeisterung für die neben ihm stehende 360° Kamera, die das gesamte Gespräch zusätzlich aufnahm, gewährte er einen tieferen Einblick in die Entwicklungsphilosophie von CD Projekt Red und einige, wesentliche Hürden, die im Laufe der immer noch andauernden Entwicklung überwunden wurden.
Wer spricht hier eigentlich?
Als Produzent bei CD Projekt Red arbeitet Richard Borzymowski mit dem Level-Design- und 3D-Assets-Team zusammen, genauer gesagt mit dem Kopf der jeweiligen Abteilung des gesamten Entwicklersteams. Seine Aufgabe ist es, sicherzustellen, dass ein Arbeitsklima vorherrscht, sodass alle Teammitglieder sich gänzlich auf ihre Aufgaben in der Entwicklung von „Cyberpunk 2077“ konzentrieren können.
Kim Sofer Matthias Ein Zusammenarbeiten mit einer der Autoren des Cyberpunk Genres, Mike Pondsmith, kann hinsichtlich der Ausgestaltung des Visuellen und Auditiven sehr inspirierend sein. Wie stellst Du sicher, dass sowohl Pondsmith als auch die Artists zufrieden mit dem sind, was auf dem Bildschirm entsteht?
Richard Borzymowski Die Frage lässt sich auf die Art und Weise, wie wir mit Mike arbeiten, übertragen. Er wird einerseits im Zuge aller Arbeiten regelmäßig von uns auf den neuesten Entwicklungsstand gebracht und andererseits ist er eine wandelnde Enzyklopädie für uns. Jedes Mal, wenn wir eine offene Frage haben, die wir nicht im Regelbuch nachschlagen können, ist Mike die erste Anlaufstelle, um das Offene zu beantworten. Ein Beispiel dafür wäre etwa das Erarbeiten des Hintergrunds eines Charakters im Spiel. Man kann sagen, dass er wie eine Art Sicherheitsnetz fungiert, sodass wir uns immer wieder sicher wissen, dass wir nicht ins komplette Unbekannte entwickeln. Allerdings: Wenn wir hinsichtlich eines Videospielinhaltes unser eigenes Ding durchzuziehen wollen, dann tun wir das, diskutieren dies mit Mike. Wollen wir dem wahren Kern eines Charakters oder des Cyberpunks an sich treu sein, dann ist er derjenige, der uns sagt, was wir tun sollten oder können.
Zusätzlich präsentieren wir Mike Ergebnisse, sobald ein größerer Teil des gesamten Spiels fertiggestellt wurde. Beispielsweise bekam er selbstverständlich das gesamte Narrativ zum Lesen, als wir die Story komplett fertig geschrieben hatten. Im Zuge dessen bescheinigte er uns sogar, dass es ihn sehr gefreut hat zu sehen, dass das Entwicklerteam begriffen hat, um was im Cyberpunk geht. Ähnliches Lob erhielten wir, als wir ihm die Stadt, Night City, zum ersten Mal im Spiel gezeigt haben. Der Satz „Genau so habe ich mir Night City in den letzten dreißig Jahren vorgestellt.“ war für uns Hinweis genug, uns sicher zu sein, dass wir auf einem guten Weg sind.
Kim Sofer Matthias Das heißt er durfte die gesamte Stadt im Spiel anschauen, nicht nur einen Charakter?
Richard Borzymowski Zum damaligen Zeitpunkt zeigten wir ihm einen Teil der Stadt. Das Lob war für uns sehr wichtig, weil der Abgleich mit seinen Vorstellungen stimmte. Ähnlich war es hinsichtlich der Charaktere, die ebenfalls wertvoller Bestandteil des Präsentierens waren. Es hilft uns jedes Mal sehr, wenn Mike ein Element des Spiels lobt.
Kim Sofer Matthias Gibt es auch Verhandlungen mit ihm bezüglich einiger Spielelemente?
Richard Borzymowski Ich würde es nicht als Verhandlungen bezeichnen. Es geht um verschiedene Meinungen: Wenn wir verschiedene Möglichkeiten erörtern, dann wird ab und an im Gespräch in einer gemeinsamen Sitzung recht schnell eine Lösung gefunden, die in den Augen aller perfekt funktioniert oder passt. Ansonsten bleiben die verschiedenen Meinungen nebeneinanderstehen, die dann im Gespräch zu einer geteilten Entscheidung führen, mit der alle zufrieden sind.
Kim Sofer Matthias Wie viele Risiken geht das Entwicklerteam im Vergleich zu den wohlbekannten Spielmechaniken und Systemen aus „The Witcher 3“ wie etwa das Dialogsystem oder die Synergie zwischen Haupt- und Nebenquests, die das gesamte Spielen bilden, durch das Implementieren von unbekannten und neuen Spielelementen ein?
Richard Borzymowski Diese Risiken sind das Hauptergebnis des kreativen Prozesses selbst. Sofern Du etwas weiterentwickelst, wie etwa das gelobte Dialogsystem, das wir in „The Witcher 3: Wild Hunt“ verwendeten, dann ist dies ein Risiko. Es stellte sich hinsichtlich des Narrativen im Spiel als funktional heraus. Wir bauten darauf auf, allerdings nicht im Sinne, dass wir das Bestehende wegschmissen haben, um etwas gänzlich Neues aufzubauen. Wir fügten interaktive Elemente hinzu: Während eines Gesprächs ist es möglich, die Kamera, das heißt den Blickwinkel zu verändern. Dadurch ist es für den Spieler möglich, seinen Fokus auf verschiedene Personen beziehungsweise verschiedene Elemente des Körpers der jeweiligen Personen zu richten. Ein Beispiel sind etwa Tattoos. Man hat anschließend die Möglichkeit darauf einzugehen. Eine Äußerung, die auf die gefährliche Symbolik hinweist, kann etwa geäußert werden. Die adressierte Person nimmt dies wahr, sie weiß nun, dass des Spielers Avatar weiß, dass es sich hierbei um ein besonderes Tattoo handelt, etwa das der Yakuza oder einer Gruppe aus einem Gefängnis. Somit werden diese Personen im Anschluss mit dir anders interagieren. Und währenddessen hat der Spieler all jene Dialogoptionen, die wir bereits in „The Witcher 3: Wild Hunt“ anboten. Abhängig davon, wie der Spieler sich zuvor entschieden hat, werden verschiedene Dialogoptionen angezeigt. Speziell für „Cyberpunk 2077“ wurde ein Glaubwürdigkeitsparameter, genannt „street cred“ (street credibility) deiner Spielfigur, entwickelt. Ist dein Status auf den Straßen der Stadt, der durch den “street cred“ abgebildet wird, hoch, das heißt deine Spielfigur besitzt hohes Ansehen, dann werden die Menschen auf den Straßen anders in Interaktionen treten. Je nachdem, wie mächtig du bist, wie dein Ruf auf der Straße ist, werden die Mitmenschen im Spiel sich mit dir auseinandersetzen. In der sehr langen Demo, die wir hier auf der Messe zeigen, gibt es solch eine Szene, in der das gesamte Spektrum des neuen Dialogsystems vorgeführt wird.
Kim Sofer Matthias Die Entscheidung von der dritten in die erste Personenperspektive zu wechseln, zieht einen fundamentalen Wandeln nach sich, was der Spieler beim Spielen sieht und wahrnimmt. Welche Gründe gab es dafür, dass ihr euch für ein sogenanntes „First-Person“ Konzept entschieden habt und welche Konsequenzen bedeutet dies? Machen beispielsweise Zwischensequenzen noch Sinn, wenn man ansonsten recht schnell Gefahr läuft, dass der Spielfluss dadurch unterbrochen wird?
Richard Borzymowski Eigentlich hast du die Frage gerade eben bereits selbstständig beantwortet. Es dreht sich alles um die Immersion und genau deshalb haben wir uns für die Egoperspektive entschieden. Wir kamen zu der Einsicht, dass ein auf Narration basierendes Spiel wie „Cyberpunk 2077“, das nebenbei bemerkt viele Shooter-Spielmechaniken verwendet, besser funktioniert, wenn wir auf die Egoperspektive setzen. Sie ermöglicht viel mehr Details darzustellen, die notwendig sind, um das vorher vorgestellte, erweiterte Dialogsystem zu ermöglichen. In einer Schulteransicht etwa könnte man nicht so viele Details sehen. Du würdest nicht alle Gesichtsausdrücke der Charaktere sehen können, wärst wahrscheinlich nicht in der Lage zu sehen, was das Tattoo auf dem Unterarm deines Gegenübers im Detail darstellt. Das sind alles Gründe, die dafürsprechen. Bezüglich der Zwischensequenzen kann ich sagen, dass wir diese im Spiel haben aber sicherstellen, dass sie sich nahtlos ins Spielen eingliedern. Es gibt beispielsweise keine Überblendungen, keine Ladebildschirme oder Sonstiges, die dich als Spieler aus dem Spielfluss zerren. Alles verhält sich einem Fluss entsprechend.
Kim Sofer Matthias Wie stellt ihr sicher, dass die „suspension of disbelief“ funktioniert? Welche Handgriffe oder Techniken benutzt ihr, um sicherzustellen, dass ein immersives Cyberpunkspiel entsteht, das die Handschrift von CD Projekt RED trägt?
Richard Borzymowski Das Genre an sich, sogenannte Rollenspiele (RPGs) sind prädestiniert dafür, weil der Spieler ständig Entscheidungen zu treffen hat. In einem gewissen Handlungsabschnitt wird man mit einer schwerwiegenden und diffizilen Entscheidung konfrontiert. Man hat zwar die Auswahl zwischen Szenario A, B und C aber keines davon ist wirklich perfekt und dennoch muss man sich entscheiden, womöglich sogar unter Zeitdruck, weil die Situation es fordert. Der Spieler wird eines davon wählen, denn er möchte im Spiel voranschreiten. Allerdings weiß er in diesem Moment nicht, welche Konsequenzen in der Zukunft auf ihn warten. Man erahnt womöglich intuitiv etwas; dass man womöglich einen anderen Charakter im Spiel verärgert hat, der wahrscheinlich auf Vergeltung aus ist. Es bleiben aber nur Mutmaßungen. Selbst wenn die Entscheidung einem leicht fällt und man denkt, dass eine perfekte Lösung gefunden wurde, kann man sich dennoch nie sicher sein, nicht doch jemandem auf den Fuß zu treten oder gar Gegenteiliges. Die Tatsache nicht ausschließen zu können, dass jemand Unbekanntes in den nächsten Spielstunden auf einen zukommt, einem überschwänglich dankt und dadurch zum Mitstreiter in einer ansonsten sehr schwierigen Mission wird, besitzt einen gewissen Reiz, der den Spieler in den Bann zieht.
Kim Sofer Matthias Das Aufeinandertreffen von linear getriebenen Erzählungen und dem eigentlichen Spiel ist ein schwieriges Thema, da einerseits der Spieler tief in die dargestellten Welt eintauchen will, die von einer linearen Geschichte angeleitet wird, andererseits sollte die Geschichte nicht vorschreiben, was wann der Spieler tun soll. Wie löst ihr dieses Dilemma?
Richard Borzymowski Das Erste, das genannt werden sollte, ist, dass unsere Geschichte nicht wirklich linear ist, weil die Struktur der gesamten Handlung, der Quests und so weiter sich ständig weiter verzweigt. Der Spieler kann viele verschiedene Pfad beschreiten; Es gibt viele verschiedene Ausgänge. Die erwähnte vom Spiel diktierte Entscheidungswahl ist das eine, das dieses Verzweigen zeigt. Die andere Seite ist, dass wir uns sehr anstrengen sicherzustellen, dass die Hauptgeschichte mit den Nebenmission eng verbunden sind. Durch das Voranschreiten in der Geschichte und wie der Spieler sich bisher verhalten hat, wird er seine Umgebung verändern, auch hinsichtlich des Verhaltens des Kontextes. Selbst wenn du nur durch die Stadt schlenderst, wirst du feststellen, dass gleichzeitig Dinge passieren, die womöglich auf dich selbst und dein bisheriges Tun zurückzuführen sind. Es ist uns sehr wichtig, sicherzustellen, dass keine lineare, sondern eine zusammengebundene, sehr weit verzweigte Erzählung in unsere Welt implementiert ist.
Kim Sofer Matthias Wie kulturell ausstaffiert wird Night City eigentlich sein? Soweit ich weiß wird es verschiedene Kulturen im Spiel geben, korrekt?
Richard Borzymowski Exakt, natürlich. Wir möchten Night City so realistisch wie möglich aufbauen. Es handelt sich hierbei um eine globale Metropole. Selbst heutzutage zeigen Äquivalente wie New York, Tokyo, London oder auch Berlin, dass in solch großen Städten prinzipiell jeder lebt. Es steht jedem frei dorthin zu ziehen, dort zu leben oder gar eine Familie zu gründen. Genau dies ist auch das, was Night City verkörpern soll: Eine riesige Stadt mit unterschiedlichen Gesichtern beziehungsweise Umgebungen, bewohnt von verschiedenen Personen verschiedener Kulturen.
Selbstverständlich lassen wir uns von Städten auf der ganzen Welt inspirieren und dennoch ist Night City ein Unikat. In der Demo ist beispielsweise klar zu sehen, dass es asiatische oder auch europäische Einflüsse in der Stadt gibt. Sie ist allerdings mehr als das, was auf dem Konzeptpapier steht. Es ist das, was Mike Pondsmith immer wieder versucht zu beschreiben: Eine gewisse Atmosphäre, Harmonie der in der Stadt Lebenden, die alles umgibt. Selbst das Kleine, das im Hintergrund passiert, ist Teil. Alles, was in der Stadt passiert, ist die Stadt selbst. Ein riesiger Organismus und du als Spieler bist nur ein kleiner Teil des Ganzen.