Mittlerweile sind fast zwei Jahre vergangen, seitdem CD Projekt RED „Cyberpunk 2077“ veröffentlichte. Mit den einschlägig bekannten negativen Auswirkungen konfrontiert, rudert das Studio seitdem dem eigenen, gesteckten und durch das Marketing lautstark im Vorfeld der Veröffentlichung präsentierten Konzept hinterher. Das Videospiel verschwand nach Monaten negativer Schlagzeilen im Laufe des Jahres 2021 immer mehr in der Versenkung, der Entwickler selbst ging PR-technisch auf Tauchstation, ehe seit September 2022 immer wieder Artikel durch die Nachrichtenticker rauschten, die von einer „Renaissance“ oder Wiedergeburt des Spieles berichten (vgl. z.B. GameStar, Washington Post, Gamerant oder NME). Von den Konsumenten ausgehend würde dem Videospiel „eine zweite Chance“ gewährt, die wiederum durch die Netflix Adaption „Cyberpunk Edgerunners“ begründet sei.
Erschienen am
10. Dezember 2020
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Dabei handelt es sich somit nicht um eine Erweiterung, ein spielbares „Addon“ für „Cyberpunk 2077“. Es ist keine, immer noch erhoffte signifikante Erweiterung des teilweise bruchstückhaft wirkenden Grundspiels, sondern eine Serie, bestehend aus an zwei Händen abzählbaren Episoden, die das Spiel dem Zuschauer unterjubelt, weil sowohl Schauplätze als auch Fahrzeuge, Technologien, Unternehmen und sogar vereinzelt Charaktere und Gangs aus dem Spiel in die Serie verpflanzt wurden. Visuell in einen Anime übersetzt wird eine Geschichte aus dem gleichen Night City von „Cyberpunk 2077“ erzählt. Hinter die Kulissen blickend könnte man durchaus den Eindruck gewinnen, dass „Edgerunners“ nichts weiter als ein geschickter Schachzug oder gar trojanisches Pferd der Marketingabteilung des polnischen Entwicklers ist, um den Ärger und die Enttäuschung der eigenen Kunden gekonnt zu umschiffen, sodass man mit den eigenen Fingern wieder genau jene Knöpfe in der Psyche des Konsumenten erreichen kann, die im Vorfeld der Spielveröffentlichung die Marke auf ein ungeahntes, positives Popularitätslevel hoben.


Vor den Kulissen unterhält die Serie nicht nur, sondern lässt einen etwas rätselnd zurück – und das wegen positiven Eindrücken. Mit „Cyberpunk Edgerunners“ beweisen CD Projekt RED, dass sie die Philosophie des Genres „Cyberpunk“ zumindest in der ersten Hälfte der Serie verstehen und in eigenen Geschichten konsistent umsetzen können. Es wird allerdings schnell klar, dass das Genre nur deshalb wirkt, weil zwar ein Protagonist zunächst vermeintlich vorgestellt wird, diese Rolle dann aber postwendend an eine Bande von Cyberpunks abgibt, zu der er sich gesellt, um schlussendlich als Zuschauer zu erkennen, dass die Welt, das heißt Night City und das Leben in dieser die eigentlichen „Protagonisten“ sind.

Die Idee des Plots ist recht parallel zu dem, was man in „Cyberpunk 2077“ erleben kann. Die Stadt Night City, die massiv unter den Fittichen riesiger Konzerne leidet und existiert, diktiert Psyche und Lebensumstände der Menschen, die sich entweder damit arrangieren, oder sukzessive im aussichtslosen Kampf dagegen auf die ein oder andere Art das Zeitliche segnen. Bunte Gestalten und Charakter verkommen im Laufe ihres Lebens zu einem grauen Einheitsbrei, weil die staatsähnlichen Riesenkonzerne das gesamte Leben jedes Bewohners der Stadt bestimmen können. Wer sich dagegen wehrt, wird untergehen – egal, ob die jeweilige Person das möchte oder nicht. Unterschiedliche Lebensweisen beziehungsweise Perspektiven auf die gleiche Welt werden in „Edgerunners“ präsentiert und erlebbar gemacht. „Cyberpunk 2077“ schafft dies durch die implementierten Nebenquests auch, allerdings ist die Art und Weise, das heißt die Präsentation anders: Sowohl das narrative Konzept eines spielbaren Protagonisten als auch die Rolle, die man als Spieler in der Welt verkörpert, arbeiten zeitweise gegen das Kennenlernen einer ganzen Spielwelt.

Der Schwenk zwischen den verschiedenen Personen ist im Anime fließend, und eröffnet damit dem Zuschauer soziale, emotionale und logische Hemisphären einer ganzen Stadt. Dadurch werden die psychischen Tiefen vieler Person in der Serie für den Zuschauer erahnbar, weil dieser deren Aussagen, Handlungen und Verhalten interpretativ in einen gekannten Kontext setzen kann. Die Serie bricht somit mit dem Videospiel „Cyberpunk 2077“, das durch den Charakter V versuchte aus der Sicht eines Protagonisten eine Welt kennenzulernen, ohne dabei selbst langfristig gestalterisch zum Zuge zu kommen. Zwar kommt man ab und an etwa mit verschiedenen Banden der Stadt in Berührung – aber mehr als ein Anspielen ist es außerhalb von Nebenquests nicht. Im Vergleich etwa zu CD Projekt REDs „The Witcher 3: Wild Hunt“ (2015), in dem man als Geralt von Riva eine Welt nicht nur kennenlernt, sondern auch über Jahrhunderte hinweg mitgestaltet hat, lernt der Spieler in der Hauptgeschichte von „Cyberpunk 2077“ recht wenig Zusammenhängendes sowohl über die Welt, die existierenden Perspektiven und Lebensphilosophien, als auch über die Genese des eigenen sozialen Umfelds und teilweise Vs Selbst. Gleichzeitig kann man diese Lücken nur dann teilweise auffüllen, wenn man alle Nebenquests spielt. Die drei zum Start des Spiels auswählbaren, unterschiedlichen Lebensläufe (Nomade, Streetkid oder Konzerner) hätten dies auffangen können. Die fehlenden, weitreichenden Auswirkungen belassen es bei einem Potenzial.

„Cyberpunk 2077“ zerbröselt, weil die Konzentration auf V automatisch die Erwartung hegt, dass die in Aussicht gestellten Fortsetzungen sich weiter um V drehen werden. Das Erwartungswissen eines durchschnittlichen Konsumenten, und die Art und Weise, wie Protagonisten zumeist in Film wie Videospiel behandelt werden, lässt keinen anderen Schluss zu. Umso empörender sind die verschiedenen, nicht zufriedenstellenden Enden des Spiels. Auch „Edgerunners“ ist emotional empörend, allerdings auf eine Art und Weise, die in Traurigkeit endet und nicht in Unzufriedenheit.


Umso mehr ist es schade, dass das, was „Edgerunners“ gelingt, in „Cyberpunk 2077“ vernachlässigt wird: Dem Spieler wird nicht klar, wer eigentlich der Protagonist ist und welche Rolle man als Spieler einnimmt, das heißt welches Erlebnis tatsächlich als Potenzial im Cyberpunk Genre schlummert. Man spielt V, aber eben nur für kurze Zeit. Das wäre nicht weiter enttäuschend, wenn sogleich klar werden würde, dass man im Gegenzug die Chance bekommen wird, in weiteren Spielen andere Charaktere kennenzulernen, die die Identifikation mit der Stadt namens Night City und der Welt von „Cyberpunk 2077“ fördert. Und dass eine ganze Welt faszinierender ist als ein einzelner Charakter isoliert betrachtet je sein könnte, dürfte unstrittig sein. Selbst „The Witcher 3: Wild Hunt“ hat dies respektiert, indem Geralt verschiedene Orte bereist, die alle ihre eigene Charakteristik haben und sich entfalten dürfen, weil Geralt Teil des Ganzen ist und nicht isoliertes Wesen, das durch diese Welt hindurch glitscht. Die Reaktion, die die verschiedenen Völker und Sonderlinge Geralt entgegenbringen zeugt davon, dass ein komplexes Geflecht verschiedener sozialer Verbindungen besteht und transportiert sogleich in Dialogen wie Reaktionen, wer Geralt von Riva ist und warum er die Person ist, die im Spiel erlebt wird. Dieses Spiegeln der eigenen Geschichte erfolgt in „Cyberpunk 2077“ kaum, obwohl auch dort der Weg eines Protagonisten klar durchweg suggeriert wird.

Verrannte sich CD Projekt Red mit „Cyberpunk 2077“, weil Konzepte versucht wurden aufeinander zu beziehen, die sich in ihrer jeweiligen Logik ausschließen? Womöglich nein, aufgrund von „Cyberpunk Edgerunners“ dann aber doch wieder ein „Ja“. Kann das Cyberpunk Genre überhaupt klassische Helden erlauben? Womöglich ja, aber dann auch wieder ein „Nein“. Diese Zwiespältigkeit sollte aufgelöst werden, weil die Erwartungen an einen Videospielhelden – so stereotypisch sie auch sein mögen – klar umrissen werden können. Der Charakter V aus „Cyberpunk 2077“ zerbricht narrativ daran, David Martinez aus der Serie „Cyberpunk Edgerunners“ hingegen nicht. Kurzum: Wäre es nicht denkbar, dass eine Videospielreihe des Cyberpunk Genre Geschichten verschiedener Personen der gleichen Stadt Night City erzählen könnte, deren Handlungsstränge sich ab und an auf direkte oder indirekte Art kreuzen, sodass mit jedem weiteren Titel eine Welt eröffnet und das Leben einer dystopischen, futuristischen Stadt komplexer, erfahrbarer und authentischer wird?