Eine gefühlte Ewigkeit unter Verschluss, ein kurzes halbes Jahr in Exklusivität verweilend, um zuletzt recht überraschend vor einem Monat kurz nach der Gamescom 2018 der breiten Öffentlichkeit präsentiert zu werden: Nach einigem Zaudern und Hadern veröffentlichten die Entwickler von CD Projekt RED eine einstündige Demoversion von „Cyberpunk 2077“ mit ausdrücklichem Hinweis ein Produkt zu präsentieren, das womöglich noch einige grundlegende Revisionen durchlaufen wird. Das gezeigte Geballer in der Metropole Night City riss auch nach dem dritten Durchsehen einen weder vom Hocker, noch enttäuschten die verschiedenen Szenen. Nicht wirklich wissend, was laut vielen Kommentaren und geteilten Eindrücken so faszinierend sein soll, wurde das Suchen nach Antworten mit der Frage verbunden, was eigentlich Cyberpunk ist und was nicht. Grund dafür dürfte unter anderem die fehlende, flächendeckende und langanhaltende Popularität des Genres an sich sein, die ansonsten den Begriff „Cyberpunk“ unmittelbar greifbar werden lassen würde. Ein metaphorischer Wissensgraben, der gefüllt dem Spektakel „Cyberpunk 2077“ einen Sinn respektive interessante Aspekte verleihen würde.
Entwickler
Plattformen
Grundsteinsetzung eines Genres
Einer, für manche der erste Meilenstein in der Genese des Cyberpunks ist Philip K. Dicks „Träumen Androiden von elektrischen Schafen?“, einem im Jahr 1968 veröffentlichten, dystopischen Roman, der verpackt in der Aufgabe widerspenstige, sich kaum mehr von Menschen unterscheidende Androiden zu eliminieren, die verschwimmenden Grenzen zwischen Mensch und Maschine zum alles bestimmenden Thema zu machen. Die sich daraus implizierende Frage, was den Menschen zum Menschen macht, wurde 1982 von Ridley Scott in dessen Film „Blade Runner“ aufgenommen und sogar als Adaption präsentiert, obwohl sich offenkundig der Film in erheblichem Maße von der Vorlage unterschied.
Die 14 Jahre zwischen Dicks und Scotts Arbeiten fügten zur Frage des Menschseins Elemente hinzu, die den Begriff Cyberpunk zusehends einschärften. Das dystopische, nächtliche Stadtbild in „Blade Runner“, das von Lichtern industrieller Wolkenkratzer und hoch aufragendender Videotafeln erhellt wird, bildet für die meisten Cyberpunkwerke die visuelle Vorlage. Die Vorstellung einer schmutzigen Zukunftsstadt war allerdings nicht gänzlich neu, denn fast exakt in der Mitte der vierzehnjährigen Zeitspanne erschien „The Long Tomorrow“, geschrieben von Dan O'Bannon und in einem Comic vom französischen Künstler Mœbius illustriert. Die visualisierten, eng aneinander liegenden Hochhäuser, die eine tiefe Kluft um seine Bewohner bildeten, inspirierten Scott genauso wie Katushiro Otomo, der ähnlich zu Scotts „Blade Runner“ im gleichen Jahr in seinem Akira-Manga von einer menschenerschaffenen, industriellen Dystopie erzeugte. In Mitten Dicks Fragen darüber, wer in Zeiten der Androiden als Mensch gilt, Mœbius‘ Verschmelzung von Film-Noir und Science-Fiction sowie „Blade Runner“s Umsetzung einer Stadt der Zukunft in bewegten Bildern, saß der noch nicht artikulierte Begriff „Cyberpunk“, der sich aufgrund der Existenz aller vitalen Bestandteile in den früher 1980er hinreichend herauskristallisiert hatte. Woher nun der Name?
I was not trying to define a genre, launch a movement or do anything more than come up with a memorable one-word marketing label for this story that would — I hoped — compress the core idea down to a few syllables and — this was the important part — stick in an editor’s mind and help me sell the thing to a magazine. […] Apparently I overdid it.
– Bruce Bethke
Mehr oder weniger ohne Intention einer Begriffsfindung entstand das C-Wort in einer Kurzgeschichte über jugendliche Hacker von Bruce Bethke, der sich im Frühling 1980 an einem Nebeneinanderstellen von Punk-Elementen und High-Tech versuchte. William Gibsons „Neuromancer“ zielte unabhängig von Bethke in eine ähnliche Richtung, indem er mit seinem „Console Cowboy“ das immer wiederkehrende Thema des Verbrechens mit der Science-Fiction erstmals verband. Auf zwei Ebenen aufbauend arbeitete Gibson mit dem schmuddeligen, kriminellen Fleischraum, der Menschliches vom hellen Schein des Cyberspace abgrenzte. Zwischen den Menschen auf den Straßen, die ums Überleben kämpfen, durch den Kontext gezwungen sich der Gewalt bedienen zu müssen und den Aristokraten, die den Planeten umkreisend darum ringen Wege zu finden, ihre künstlich und teuer verlängerte Lebensspanne sinnstiftend zu füllen. „Neuromancer“ bestimmte die Grenzen des Cyberpunks. Grenzen, die durch die folgenden Bücher erforscht und zementiert wurden:
- Rudy Ruckers Ware-Serie, die der Idee „Neuromancer“ selbstbewusster, künstlicher Intelligenzen bis zu ihrer logischen Schlussfolgerung, dass sich die resultierenden, mechanischen Lebensformen durch aufeinanderfolgende Generation entwickeln, verfolgte.
- Pat Cadigans „Mindplayers“ oder „Synners”, die den Fokus auf die psychologischen Auswirkungen der Gehirnmodifikationstechnologie legten.
- Bruce Sterlings „Islands in the Net” setzte ohne direkten Bezug zu Bethke die Idee einer Hacker-Subkultur fort.
Elemente des Cyberpunks
Die daraus resultierende Mischung bildet das, was heutzutage unter dem Begriff des Cyberpunks zu verstehen ist: Eine Verbindung zwischen dem Szenario fortgeschrittener Technologien und bodenständigen, sich durch die Historie von Zivilisationen ziehenden Themen wie Drogen, Spelunken und der menschlichen Verzweiflung, die viele Kriminaldelikte nach sich ziehen kann. Die Herrschenden der Cyberpunk-Welten sind fast immer riesige Konzerne, unübersichtliche Organisationen, die den Zugang zu Technologien und damit Chancen des sozialen Aufstiegs kontrollieren. Die in diese Welt hineingesetzten Protagonisten neigen stereotypisch dazu, in diesem Gemisch aus Leder, Chrom und Neon Außenseiter zu sein. Kriminelle und Antihelden im Noir-Stil, die am Rande der Gesellschaft ihr Dasein fristen. Die oft zitierte Maxime von Sterling fasst es gut zusammen: Cyberpunk ist „Lowlife and High-Tech“.
What happened to cyberpunk fiction was what happens to every successful new thing in any branch of pop culture [...] It went from being something unexpected, fresh and original to being a trendy fashion statement, to being the flavor of the month, to being a repeatable commercial formula, to being a hoary trope.
– Bruce Bethke
Dass jeder Aufschwung auch Abschwung bedeutet, ist auch außerhalb wirtschaftlicher Modelle geschriebenes Gesetz. Und obwohl es in den 1990ern und vor allem frühen 2000ern immer stiller um die Cyberpunk-Thematik als Stilmittel verschiedener Geschichten wurde, blieb die Idee zumindest in den Köpfen vieler Fachkundiger existent. Abgesehen von Bethkes Analyse des Popularitätsschwundes und der damit verbundenen, indirekten Warnungen an alle Werke, die sich dem Thema verschreiben, ist nicht nur momentan sondern vor allem durch CD Projekt REDs Versuch namens „Cyberpunk 2077“ bewiesen, dass das Genre über seine Ursprünge in den 1980er hinaus überlebt hat. Womöglich liegt ein Reiz auch in der relativ präzisen Vorhersagekraft einiger im Cyberpunk behandelten Themen, denn Autoren wie William Gibson oder Neal Stephenson erarbeiteten in ihren Geschichtshandlungen gute Modelle darüber, wie sich Technologien entwickeln würden und halfen darüber hinaus gelegentlich, sie zu gestalten. Ihre Bücher trugen dazu bei, Begriffe wie den „Cyberspace“, „Virus“ und „Avatar“ populär werden zu lassen und einzuschärfen.
Es ist ein Setting, das sich auf die menschliche Erfahrung konzentriert und wie weit wir als Menschen die Grenzen, sowohl der Technologie als auch uns selbst überwinden können; genauso wie es Litzsinger vor längerer Zeit bereits formulierte. Cyberpunk-Autoren, die den Grundstein für das Genre legten, betrachteten das beschleunigte Tempo des Wandels im späten 20. Jahrhundert und verstanden, dass Technologie für immer ein untrennbarer Bestandteil der menschlichen Erfahrung sein würde. Dies unterscheidet den Cyberpunk noch immer von anderen Zweigen der Science-Fiction. Es ist die Art und Weise, wie es die soziale Wirkung von Technologie im Alltag berücksichtig. Ashley Yawns Zitat spricht für sich, wenn sie sagt:
Body modification is a great avenue for empowering stories for groups routinely denied bodily autonomy: disabled people, trans people, women as a whole, etc. [...] The problem is that utopianism clashes with the impoverished lives cyberpunk depicts, immediately raising the question of who can afford these freedoms. [...] Enabling bodily autonomy, alteration and restored function is a great thing but as things stand, access for the majority means debt or servitude to malicious corporate monopolies. Anyone who’s experienced tech industry practices of planned obsolescence and covert data collection on their phone can imagine what these companies might do given access your cybernetic limbs, let alone your whole nervous system.
– Ashley Yawns
In Cyberpunk-Welten geht es um die Kluft zwischen denen, die Zugang zu futuristischen, vielversprechenden Technologien haben, und denen es nicht vergönnt ist; eine Lücke, die oft wörtlich in der Vertikalität der Megastädte ausgedrückt wird.
Der Auftritt CD Projekt REDs und Mike Pondsmiths
„Cyberpunk 2077“ soll all dies sein, muss all dies sein, wenn es überzeugen soll. Als im Jahr 1988 das Thema erstmalig in einem Strategiespielsystem genannt „Tabletop“ durch Mike Pondsmith umgesetzt wurde, bewies das Genre seine Adaptionsfähigkeit auf andere Kunstformen. Nicht nur der Name „Cyberpunk 2077“ ist bis auf die Jahreszahl der gleiche, es ist eine direkte Adaption des Tabletops, hin zu einem First-Person, Open World Einzelspieler, der die Charaktere sowie Klassen Pondsmiths beibehält. CD Projekt REDs Hang, politische Themen in Videospiele zu behandeln, indem sie nahtlos in die jeweilige Welt übersetzt wirken, lässt in Kombination mit den Ideen vorheriger Cyberpunk-Autoren die Erwartungen an ein tiefgründiges Spiel in die Höhe schnellen.
Empfohlener redaktioneller Inhalt
An dieser Stelle steht ein externer Inhalt von Twitter, der weitere Informationen zum Verständnis des Artikels anbietet. Per Klick kann dieser auf eigenen Wunsch angezeigt und wieder ausgeblendet werden.
Ich bin damit einverstanden, dass Inhalte von Twitter angezeigt werden. Weitere Informationen, inwiefern personenbezogene Daten an Twitter bei Anzeige übermittelt werden, können in den Datenschutzerklärungen entnommen werden.Die gezeigte Spielstunde blieb dies fast gänzlich und wohl mit Absicht schuldig. Cyberpunk und Science-Fiction im Allgemeinen können Ideen aus dem Grau des modernen Lebens herausreißen und derart kontrastreich präsentieren, dass eine Faszination daraus entsteht. Ein Beispiel wäre etwa das bereits in Konzeptarbeiten vorgestellte, gewinnorientierte Medizinsystem, das in „Cyberpunk 2077“ zum paritätisch und paramilitärischen Trauma-Team mutiert, das um das Leben zahlender Kunden zu retten bereit ist zu töten. Diese Art des Umgangs mit einem Widerspruch ist alles andere als subtil, aber das Überdrehte bietet die Chance einer reflektierten Untersuchung unserer aktuellen politischen Situation. In jedem Fall ein wichtiges Beispiel der Immersion in der präsentierten Quest der ein Stunden-Demo, über das zum Leidwesen des Zuschauers in wenigen Sekunden drüber gewischt wird und dies womöglich, um alles, was das Narrativ und somit das Spiel betrifft (noch) zu verschleiern.
Während das Genre in jüngster Vergangenheit eine kleine, halbwegs effektive Renaissance durch Werke wie „Blade Runner 2049“, einem Remake von „Ghost in the Shell“, der Netflix Serie „Altered Carbon“ und Spielen wie „Deus Ex: Mankind Divided“ (Eidos Montréal, 2016) erlebt, sollte „Cyberpunk 2077“ nicht nur in dieselbe Kerbe schlagen, sondern müsste sich gerade deshalb abheben, weil es sich nicht vor den ureigenen politischen Ideen scheut. Pondsmiths Aussage „Hell yes, it's political - now more than ever“ lässt zumindest aufhorchen, dass das Spiel tatsächlich um seine bisher gezeigten, eher generische Spielmechaniken weiß und man sich komplett auf das Schleifen des Juwels des Spiels, die implementierte Story, konzentriert.