Fast gequälte zwei Stunden warten circa tausend Zuschauer, sowie weitere hunderttausende an den Bildschirmen zuhause oder unterwegs darauf, dass Geoff Keighley als abgesandter Digitalprophet der ersten Opening Night Live Show zur Eröffnung der Gamescom 2019 seinen Dienst erfüllt: Er wird das womöglich einzige Highlight des Abends anmoderieren: Hideo Kojima.
Um 21:40 Uhr, das heißt zwanzig Minuten vor Showende wird ein seltsam glorifizierender Teaser, der einem Tribute-Filmchen für eine sich im Ruhestand befindende Ikone gleicht, präsentiert. Anschließend bemüht sich Keighley die Zuschauer zum Aufstehen zu animieren, während eine schmale, fast zerbrechliche Gestalt zielgerichtet gen Scheinwerferlicht läuft. Hideo Kojima erscheint, hält souverän das Mikrofon zwischen seinem Dolmetscher sowie Geoff Keighley stehend, der außerdem ein Freund von ihm ist, und beginnt zu reden. Währenddessen formiert sich eine Traube aus Zuschauern vor der sehr niedrigen Bühne. Offenbar haben sie Keighleys Aufforderung zum Aufstehen zu wörtlich genommen und schießen nun fleißig Selfies. Mit Worten wie „Genius“ versuchen die Fans die Aufmerksamkeit des leitenden Entwicklers von „Death Stranding“ zu ergaunern. Bodyguards versuchen Abstand zwischen der schon spirituell wirkenden Versammlung und der eigentlichen Show herzustellen. Kojima lässt sich von den Störversuchen nicht beeindrucken, lächelt freundlich, grüßt ab und zu per Augenkontakt oder kleiner Handgeste, um abermals Minuten des Nichts von „Death Stranding“ zu präsentieren.
Erschienen am
08. November 2019
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Spieldauer
Inverses Geschichteschreiben
Hideo Kojima präsentierte in der Opening Night Live Show der Gamescom gleich zwei neue Trailer, die sich als weitere Puzzleteile zum ermüdenden Ratespiel hinzufügten. Die Bereitschaft, immer wieder Neugier in „Death Stranding“ zu investieren, wurde spätestens dann auf eine äußerst harte Probe gestellt, als klar wurde, dass die erste inhaltsschwere Vorschau auf der Gamescom selbst in einem Kino zu sehen sein würde. Der normale Zuschauer, der keine Messeticket erstehen konnte, muss sich stattdessen seit Ankündigung des Spiels auf der E3 2016 mit insgesamt acht nichtssagenden Videospielschnipsel zufriedengeben. Der neunte, einen Tag später in der Entertainment Area gesehene Informationsfetzen, brachte einiges an Licht ins Dunkeln; nicht nur was das Narrativ an sich betrifft, sondern auch zum Design des Spiels. Kojima bedient sich hochautomatisierter Verhaltensmuster, die sich evolutionsbiologisch und -psychologisch ergeben:
1. Die Faszination für die Frage des Lebens nach dem Tod sowie die damit verbundene Angst des Selbstbestimmungverlustes ist Teil des „Death Stranding“-Konzepts. Unsichtbare, schier übermächtige Wesen namens „BT“s, die die Lebenden vom Erdboden rauben, symbolisieren diese Angst. Die Idee, einen Protagonisten zu steuern, der beim Verschlucken nicht für immer verschwindet, sondern die Möglichkeit besitzt, zurückzukehren, bricht das Fürchten und bringt Faszination für den Charakter mit sich.
2. Konrad Lorenz‘ „Kindchenschema“, das damit verbundene „Motherese“ (Baby Talk) sind weitere, wesentliche Bausteine, die in den Trailern zu sehen sind. Dem Charme eines Babys verfällt (fast) jeder Mensch. Es entsteht eine unmittelbare Identifikation mit dem schutzbedürftigen Wesen und der umgebenden Szenerie. Es ist in diesem Sinne nachvollziehbar, dass Kojima Productions versucht, das namenlose Ungeborene, das sich in der künstlichen Nachbildung einer Fruchtblase befindet, als Maskottchen zu inszenieren (vgl. z.B. die Collectors Edition des Spiels).
3. Das soziale Wesen des Menschen wird ebenfalls instrumentalisiert. „Death Stranding“ ist durchzogen von Einsamkeit und atmosphärischer Leere. Die Aufgabe des Spiels, die United Cities of America nach einem verheerenden Krieg wieder zu verbinden, um die einstige Nation der Vereinigten Staaten von Amerika ein Stück wieder zu etablieren, ergibt Zusammenspiel aus Einsamkeit und Autonomie. Fügt man dem Szenario eine Bedrohung, wie schier wahnsinnig agierende Terroristen hinzu, die selbst mit Raum und Zeit (Timefall-Regen, der jeden altern lässt) spielen, ergibt sich auf moralisch ethischer Ebene das Motiv, die Aufgabe sofort anzunehmen. Der Spieler ist ein einsam agierender Held: Es wird auf das Superman-Schema zurückgegriffen.
Es scheint fast so, als wäre nicht die Handlung das erste entworfene Element von „Death Stranding“ gewesen. Stattdessen wurden zunächst die beschriebenen Aspekte, die alle auf ihre Art eine hohe emotionale Bindung an das Produkt automatisch garantieren, gesammelt. Anschließend wurde die Geschichte als Bindeglied der Aspekte gestrickt. Die „embeded“ Story, die Logik der Handlung im Spiel, wirkt auf den ersten Blick wirr, auf den zweiten Blick gekünstelt und nicht wirklich schlüssig. Das „Genie“, das Kojima zugeschrieben wird, weil viele trotz wirrer Handlung die Faszination an „Death Stranding“ nicht verlieren, erscheint im Zuge des Triggerns durch psychologische Automatismen überhöht.
Cameos
Die letzte Chance vor dem Veröffentlichungsdatum 08. November 2019 nicht nur (von Interpretationen getriebene) Versprechungen gegenüber den Interessierten abzugeben, sondern Handfestes durch Spielszenen zu zeigen, wurde verpasst. Sechs Minuten spielerisches Nichts mit etwas Witz bestätigen, dass Cameos der Erschaffung von unbekannten, faszinierenden Charakteren vorgezogen wurden. Nach Guillermo del Toro ist nun der zweite Freund Kojimas, Geoff Keighley ebenfalls Teil des Spiels. Das Charisma und die Popularität von del Toro, Keighley, Norman Reedus, Mads Mikkelsen, Troy Baker, Nicolas Winding Refn, Tommie Earl Jenkins, Léa Seydoux, einer jungen Lindsay Wagner und Margaret Qualley ist ein Auffangnetz zur Sicherung des Erfolges, falls das narrative Konzept nicht aufgehen sollte. Es ist ein heikles Spielen mit der Vorfreude vieler, die aufgrund der stichhaltlosen Präsentation des Produktes Sony wie Kojima Productions böse auf die Füße fallen kann. Erfüllt das Spiel nicht die Erwartungen, die momentan auf subjektive, unkontrollierte Weise entstehen (Hype), mutiert das gesamte Marketing und Spielkonzept zu einer Farce.
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Kojima betont immer wieder in sozialen Netzwerken, dass er sich vom Spieldesign viel verspricht. Der grundsätzlichen Marketingstrategie entsprechend bleibt der 56-jährige auch in diesem Punkt unkonkret, lässt erhebliche Interpretationsspielräume absichtlich zu. Selbstverständlich ist dies Wasser auf die Mühlen der großen (Fach)Pressehäuser der Videospielbranche, die Faszination und Hypes gerne in Klicks umgemünzt sehen. Die Marketingstrategie ist die Sicherstellung, dass die Marke „Death Stranding“ kontinuierlich durch alle großen Pressehäuser und Youtube-Kanäle geistert. Auf der Strecke bleibt das das Videospiel an sich. Sollte des Spiel hervorragend sein, das heißt viel Spielspaß bereiten, ginge die gesamte Strategie auf. Dies wäre dann der eigentliche Geniestreich Kojimas. Ansonsten droht die beschriebene Farce, die außerhalb der akquirierten Schauspieler höchstwahrscheinlich weder für Entwickler wie Kojima noch für Sony Playstation Schaden bedeutet – es wäre maximal ein Stillstand seit „Metal Gear Solid V: The Phantom Pain“ (Konami, 2015).